Der Tag meiner Entlassung stand an. Ich war orientierungslos. Bei allen, die vor mir die Station verließen, lief der Tag anders ab. Eine Art Fahrplan, eine Richtlinie für den Ablauf schien es nicht zu geben. Oder war mir die Chronologie einfach nur nicht bewusst geworden. Sollte es noch ein Abschlussgespräch geben? War dies überhaupt notwendig? Wechselte ich doch am nächsten Tag in die Tagesklinik... Doch die Schwestern konnten mir keine Auskunft geben. Sollte ich doch einfach am Ärztezimmer klopfen und nachfragen... Eine einfache Antwort auf eine einfache Frage. Eine Frage, die immer und immer wieder aktuell wurde. Schließlich war dies doch nicht der erste oder gar letzte Entlassungstag, den die Station erleben täte. Ich war enttäuscht. Kam ich mir doch so unendlich unbeachtet vor... Ich klopfte an besagter Tür. Keine Reaktion. Und nun? Ich stand da und wartete. Wartete auf ein Zeichen. Mehrere Momente vergingen. Plötzlich öffnete die junge Ärztin mit dem markanten Akzent. Sie teilte mir mit, dass ich doch noch einmal an der heutigen Gruppenvisite teilnehmen soll. Ich war verwundert, aber befolgte die Anweisung ohne weitere Nachfrage.
Das System der Gruppenvisiten hatte sich geändert. Neues Jahr – neues Glück... oder wie bezeichnet man solch einen Strukturwandel. Nicht mehr die gesamten Patient*innen der Station sondern nur noch die Gruppenmitglieder kamen zusammen. Für einige änderte sich dadurch jedoch nichts. Egal wie viele Menschen anwesend waren – es fiel ihnen schwer sich zu öffnen. Ich konnte es so gut nachvollziehen. Wollte ich doch auch nie alles vor allen besprechen...
Nach der Visite packte ich die letzten Sachen zusammen und zog das Bett ab. Eine Angewohnheit, die ich selbst in Hotels pflegte. Keine Ahnung warum – ich tat es einfach...
Gegen 11 Uhr wurde ich zum Abschlussgespräch gebeten. Ein Gespräch, welches mich ein wenig hemmte. Verdruckst saß ich da. Versuchte meine Unsicherheit zu vertuschen. Wieder kam die Sprache auf diese Situationsbögen. Bögen zu denen ich immer noch kein reelles Verhältnis aufbauen konnte. Saß ich doch immer wieder minutenlang vor den leeren Formularseiten. Saß ich doch immer wieder da und zerdachte mir doch immer wieder jeglichen Ansatz. Traute mich nicht einfach einmal los zu schreiben. Aus Furcht vor Fehlern. Aus Furcht vorm Versagen. Lieber nichts schreiben als nur den kleinsten Anflug von Unzulänglichkeit zu zeigen. Sobald ein Scheitern auch nur im Geringsten von mir erwartet werden könnte, erstarrte ich. War ich wie gelähmt...
Die Ärztin eröffnete mir einige Diagnoseschlüssel. ICD-10-Normierungen, welche mir durchaus bekannt waren. Aber auch solche, die mir noch niemand unterbreitet hatte. Sie wirkte auf mich ein wenig gehemmt. Hatte sie etwa die Vermutung, mich mit diesen statistisch-diagnostischen Zahlen aus der Bahn zu werfen? Sind diese Codierungen doch eher eine Arbeitshypothese. Eine Grundlage für die Abrechnung gegenüber der Krankenversicherungen. Bisher handhabte ich solche Diagnosecodes doch eher als Information. Eine Art medizinisches Horoskop. Wie beim allgemeinen Horoskop suchte ich mir die angenehmsten heraus. Gefiel mir was ich las, dann nahm ich es mir an. Gefiel es mir nicht, so versuchte ich es zu ignorieren... Nicht in der Wertigkeit, dessen was sich hinter dieser Zahlenkombination verbarg sondern eher in einer Art von distanziertem Abstand. Schließlich waren es nur Ziffern und Zahlen... Doch für einen Diagnoseschlüssel war ich dankbar. Zumindest fühlte es sich erleichternd an – hatte dieses jahrelange Empfinden doch endlich einen Namen. Einen Namen... - Dysthymie...
Wollte ich mich nach dem Arztgespräch doch ganz einfach schnell und leise von Station schleichen... Dem in mir aufkommenden Gefühl von Bedeutungslosigkeit für diese Welt keine Chance geben. Alles dafür tun, dass es sich nicht bestätigen konnte. Doch dieser Plan funktionierte nicht. Wurde ich doch von einigen zum Abschied herzig umarmt. Selbst ein kleines Abschiedsgeschenk hatten sie heimlich organisiert. Obenauf lag eine Karte mit vielen tollen Sätzen. Ich war gerührt und beschämt zu gleich. Waren mir solche liebevollen Gesten doch irgendwie immer unangenehm. Stimmten diese doch nie mit meiner eigenen Wahrnehmung überein...
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