Professor Unaussprechlich hatte erneut zur Visite geladen. Im Speiseraum hing wieder die Übersicht mit der Reihenfolge der Patient*innen aus. Im Gegensatz zur letzten Woche stand ich nicht auf Position eins. Mein Name war an vierter Stelle aufgelistet. Mein Zahnarzttermin rückte in unerreichbare Ferne. Ausgerechnet – so schätzte ich, lag beides zur gleichen Uhrzeit. Ein wenig fragte ich mich schon weshalb ich den Zahnarzttermin in der morgendlichen Liste eingetragen hatte. Vielleicht war es aber auch ein Fehler – mein Fehler – den Zeitpunkt der Behandlung anzugeben und nicht den notwendigen Weg mit einzurechnen...
Der Beginn der Oberarztvisite zog sich wie in der letzten Woche wieder ein wenig. Eine gewisse Verunsicherung hing in der Luft. Immer wieder standen Patient*innen vor der Liste und spekulierten über den zeitlichen Verlauf.
Wir saßen gemütlich im Speisesaal und überlegten, ob wir ein Kartenspiel zur Hand nehmen sollten um die Wartezeiten zu überbrücken. Sollte doch die Gruppentherapie ausfallen. Entgegen der morgendlichen Aussage fiel die Ergotherapie jedoch tatsächlich nicht aus. Sie wurde einfach nur in einer anderen Form durchgeführt. Zwar stand Gruppenergo auf dem Plan doch war es eine einzelne Therapieeinheit. Jede*r konnte am eigenen Projekt weiter arbeiten. Die anfängliche Aufregung über die kuriose Informationspolitik zu den einzelnen Einheiten wich schnell einem geschäftigen Treiben. Figuren wurden gefilzt und Bilder aus Mosaiksteinchen arrangiert. Ich konnte jedoch nicht weiter schreiben. Hatte ich doch ausgerechnet heute den Laptop zu Hause gelassen. War ich doch der Überzeugung, dass sich heute in der Tagesklinik keine Gelegenheit bieten würde. War doch der Tage ursprünglich mit inhaltlichen Einheiten, dem Zahnarzttermin und der Visite gefüllt. Doch jetzt war alles anders... Ich brauchte also eine unkonventionelle Lösung. Irgendetwas, was mich ablenkte und gleichzeitig sinnvoll beschäftigte – konnte ich doch nicht nur da sitzen und in die Gegend starren... Ich nahm meine Mappe und las mit Musik in den Ohren erneut in den Psychoedukationsunterlagen... Die Musik erleichterte mir, die Menschen und deren Lautstärke im Raum zu ertragen...
Die Zeit wurde immer knapper. Mein Termin rückte näher und ich bezweifelte mittlerweile stark, dass ich es noch pünktlich in die Zahnarztpraxis schaffen würde. Ich rief an und sagte ab. Resigniert vermerkte ich den neuen Termin im Kalender – und beschloss, diesen dann inklusive der notwendigen Wegezeit auf der Terminliste der Tagesklinik zu notieren...
Der Oberarzt begrüßte mich mit freundlichem Handschlag. Offen und positiv geleitete er mich in den Raum in dem bereits mein Bezugspsychologe und die Stationsschwester warteten. Doch ich konnte seine Offenheit nicht recht einschätzen. Erwartete ich doch angesichts des gestrigen Tages wieder nur schlechte Nachrichten... Nachrichten, welche sich auf die nächsten Tage und Wochen auswirken könnten. Entscheidungen, welchen ich mich absolut nicht gewachsen fühlte...
Ich wollte mich erklären und so überwand ich mich und schilderte zögerlich, wie ich die Gruppentherapie vom Vortag erlebt hatte. Was sich in meinen Erinnerungen daran festgesetzt hatte. Versuchte zu beschreiben, wie die ein oder andere Aussage auf mich wirkte. Ich war klar. In meiner Wahrnehmung konnte ich ausdrücken was mich bewegte... Doch er nahm eine Übersicht und sortierte meine Anmerkungen gezielt in die einzelnen Schemamodi ein. Meinte, dass ich der Gruppe unrecht täte indem ich die Situation werten würde... Werten? Nein werten war mir fern... Werten wollte ich in keinstem Falle. Ausschließlich erklären wollte ich mich... Doch dies schien mir nicht zu gelingen. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass ich mich vollkommen unverständlich ausdrücken würde. Ich zweifelte. Ich verzweifelte schier angesichts der Emotionen, welche in mir aufstiegen... Mein Blick wanderte nach draußen in den milden Januartag... Tränen liefen mir überwältigend über das Gesicht. Tränen, für die ich mich hasste – wollte ich doch stark und vernünftig sein...
Hilfesuchend schaute ich mich im Raum um. Doch da war keine Reaktion. Zumindest konnte ich die Blicke der beiden anderen nicht einschätzen. Ich fühlte mich einsam und verlassen, gar ausgeliefert. Mein Verständnis der bisherigen Aussagen des Professors schwand zunehmend. Wort für Wort wurde immer unverständlicher. Es kam mir vor als würden wir nicht nur unterschiedliche Dialekte sprechen, sondern mit vollkommen anderen Sprachen kommunizieren täten. Mit scheinbar letzte Energie, einem zaghaften Aufbäumen, äußerte ich diesen Eindruck. Sah den Professor unsicher in die Augen. Doch da war kein erhofftes Verständnis – er sprach weiter. Weiter, immer weiter und ich nickte. Nickte in der Hoffnung, dass ich damit keiner negativen Entscheidung zugestimmt hätte... Da keine anderen Informationen in mein Hirn drangen, ging ich davon aus, dass ich meinen so scheinbar unberechenbaren Kampf gegen meine Depression am Montag in der Tagesklinik fortsetzen könne. Sicher war ich mir jedoch in keinerlei Hinsicht... Heulend verließ ich den Raum...
Meine Frühstücksbegleiterin saß bereits in Warteposition für ihren Termin in der Oberarztvisite. Sie schaute mich an und nahm mich wortlos in den Arm. Wie gut doch so eine Umarmung – so eine kleine Geste tun kann. Beruhigen konnte sie mich dennoch nicht... Die Tränen liefen immer noch...
Die Minuten verstrichen wie in Zeitlupe und die Tränen liefen immer weiter. Heiß rannen sie mir über die Wangen. Waren kaum zu stoppen. Ich konnte kaum noch aus den Augen schauen, denn diese schwollen langsam an... Mehrere Mitpatient*innen fragten bereits, wie sie mir eventuell beiseite stehen könnte. Doch darauf hatte ich jedoch keine Antwort. Wusste ich ja selbst nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich war unsicher. Lief nervös von einem Raum zum anderen. Zum ersten Mal wollte ich nicht davon laufen, wollte einfach nur einen sicheren Platz innerhalb der Klinik finden. Zum ersten Mal fühlte ich mich hier geborgener als im Draußen...
Nach einer gefühlten Ewigkeit ging ich nach unten in den Speiseraum und setzte mich zu ein paar Menschen, die sich entspannt unterhielten. So langsam konnte ich mich ein wenig beruhigen, vor allem äußerlich... Wie es in mir aussah, konnte und wollte ich nicht preisgeben...
Zur Mittagszeit lief mir meine Bezugsschwester vor der Küche über den Weg. Ein wenig hatte ich das Gefühl, dass sie es bedauerte nicht bei der Visite anwesend gewesen zu sein. Doch ich traute meinem Eindruck nicht recht... Und plötzlich brach es aus mir heraus. Plötzlich und spontan meldete ich mein Bedürfnis auf eine Rückschau zur Visite an. War ich doch immer noch nicht sicherer geworden. Sicher in dem, was die Aussagen des Professors Unaussprechlich für mich bedeuten sollten... Sie schaute mich freundlich lächelnd an und sagte mir zu, diesen Wunsch an die Stationsschwester, welche mit an der Visite teilgenommen hatte, weiterzuleiten... Ich war beruhigt...
Wir saßen immer noch im Speisesaal und unterhielten uns. So langsam konnte ich mich in die Harmlosigkeit des Augenblickes einfinden. Nach einer Weile gingen einige zum Rauchen und so saß ich plötzlich mit der Patientin, deren Aussage mich gestern in der Schematherapiesitzung so unendlich aus der Bahn geworfen hatte, allein im Raum. Ich war mir immer noch nicht wirklich sicher, wie ich mit ihr umgehen sollte. Die Aussage, so war ich mir sicher, war nicht auf mich gemünzt. Die Logik sagte mir dies immer und immer wieder... Das Gefühl meinte jedoch immer noch etwas anderes... Selbst das kurze Gespräch am Morgen konnte nichts an meiner verschobenen Wahrnehmung ändern. Ich war enttäuscht – enttäuscht von mir selbst... Ein wenig waren wir beide verunsichert. Um das Schweigen zu brechen sprach sie mich auf die Visite an. Ich versuchte ihr zu beschreiben, wie ich mich gefühlt hatte... Was ich versuchte, dem Oberarzt mitzuteilen. Und da waren sie wieder diese ermüdenden Tränen...
Da ich mich nicht wirklich beruhigen konnte, ging sie nach unten ins Schwesternzimmer. Ich hatte noch versucht, sie davon abzuhalten. War ich doch überzeugt, dass die Stationsschwester von meinem Wunsch nach einem Gespräch wusste. War ich mir doch sicher, dass sie aktuell nur noch mit wichtigeren Dingen beschäftigt war. War ich doch überzeugt, dass sie mir bei Gelegenheit ein Zeichen geben würde. Die Mitpatientin konnte ich jedoch nicht von ihrem Vorhaben abhalten. Von dem Vorhaben, dass so liebevoll gemeint war. Das Vorhaben was mir aber so unangenehm war...
Als ich zum Schwesternzimmer ging kam mir die Stationsschwester bereits entgegen. Ich hatte das Gefühl, sie von Wichtigerem abzuhalten... Doch sie lächelte mich an. Ich solle mich doch trauen allein zu kommen, so meinte sie behutsam, wenn ich Gesprächsbedarf habe. Diese Aufforderung machte mich jedoch nur noch unsicherer, brachte mich dazu mich zu rechtfertigen...
Das folgende Gespräch konnte mir ein wenig Sicherheit wiedergeben. Ihre angenehme Art beruhigte mich. Ich beschrieb ihr meine Wahrnehmungen. Beschrieb das, was ich verstanden hatte. Versuchte ihr meinen Eindruck, dass ich in einer anderen Sprache gesprochen habe, zu verdeutlichen... Sie lächelte. Meine Anspannung legte sich allmählich... Doch ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Während ich versuchte ihr mein aktuelle Konstitution zu beschreiben hörte sie mir aufmerksam zu. Teils fragte sie verständlicherweise auch noch einmal nach. Wir fanden jedoch eine Sprache. Ich fühlte mich angenommen. Ja sogar angekommen. Konnte sie mir mit ihren Beschreibungen doch den Professor und seine Äußerungen, seine Feststellungen in für mich verständliche Worte übersetzen...
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