Frustriert bin ich gestern noch in meine Wohnung gefahren. Ebenso frustrierend verlief die Fahrt und der Abend. Etwas in mir wollte mich nach Nirgendwo treiben. Einfach fahren. Ohne Ziel. Einfach weg. Es fiel mir schwer diesem Drang zu widerstehen. Doch die Vernunft hielt mich auf der vorgegebenen Strecke. Je näher ich der Stadt kam umso mehr machte sich ein unangenehmes Gefühl in mir breit...
Hunger und Appetit hatte ich keinen. Irgend etwas führte mich dennoch zum Essen. Frustfressen ist wohl eher der richtige Ausdruck. Sinnlos und unangemessen. Ich fühlte mich schuldig. Unzulänglich. Lächerlich. Zu guter Letzt deshalb auch bestraft. Brach mir doch ein Stück Zahn ab. Ich hasste mich...
Von mir selbst unendlich tief enttäuscht trieb ich mich in den Schlaf. Getrieben mit ellenlangen inneren Monologen über meine eigene Dummheit. Selbstvorwürfen. Eigenen Schuldzuweisungen. Schließlich driftete ich in eine Phantasiewelt ab. In meine Phantasiewelt. Eine wohlige Welt. Die Wärme der Bettdecke tat ihr Bestes um mir dieses wohlige Gefühl auch körperlich zu ermöglichen. Ich kuschelte mich ein. Rollte mich immer fester zusammen und schlummere mich davon.
Im Schlaf stoppen die Tiraden im Kopf. Die innere Stimme hat Pause. Zumindest nehme ich sie im Schlaf nicht wahr. Erst als der Wecker klingt wache ich auf. Die Nacht war ohne bleibenden Eindruck vorüber gegangen. Kein Aufwachen. Kein Traum. Erholt fühlte ich mich trotzdem nicht.
Die Menschen im Gruppenraum wirken alle noch verschlafen oder in sich gekehrt. Oder einfach beides. Einige Plätze sind frei. Ich bin mir nicht sicher ob das so seine Richtigkeit hat. Der Platz neben mir ist regulär verwaist. Der junge Mann hatte am Freitag seinen letzten Kliniktag.
Eine junge Frau mit dunklen, welligen Haaren betritt den Raum und setzt sich auf einen der leeren Stühle. Ihre Haare umspielen das zarte Gesicht und ihre Schultern. Ich habe keine Ahnung wer sie ist. Hatte ich sie doch bisher noch nicht wirklich wahrgenommen. Die Morgenrunde startet. Zum Wochenanfang ist mehr Zeit dafür eingeplant. Die zierliche, dunkelhaarige junge Mitpatientin beginnt wie selbstverständlich. Sie berichtet ein wenig von ihrem Wochenende. Frau Unbekannt notiert sich einige Stichpunkte und fragt nach ihrem Wochenziel. Selbst hierfür hat sie scheinbar problemlos eine Antwort parat. Danach reicht sie in guter Manier den imaginären Staffelstab im Uhrzeigersinn an mich weiter. Ich bin innerlich erstarrt. Habe ich doch immer noch keinen Draht zu den Menschen hier im Raum. Fühle mich wie ein Fremdkörper. Will eigentlich nur wieder weg. Weg nach Nirgendwo. Auf Nachfrage von Frau Unbekannt presse ich ein paar Worte hervor und gebe das Sprachrecht weiter...
Auf dem Tagesplan steht als nächstes Bewegungstherapie. Mit Vorfreude hatte ich am Morgen meine Tasche mit Wechselsachen für die Turnhalle gepackt. Federball spielen war meine Hoffnung. Doch diese Hoffnung wurde enttäuscht. Die Therapeutin plante einen Spaziergang. Mein erster Gedanke war, dass es in einen Gewaltmarsch in die Höhen der Umgebung ausarten würde. Ich war entsetzt. Ich wollte nicht. Vor allem wollte ich keine Steigungen. Gerade aus – ja gerade aus konnte ich mir vorstellen. Nur keine Steigungen. Zum Glück hatten noch weitere Patient*innen die selben Befindlichkeiten. Gemeinsam fiel der Beschluss auf den Weg entlang des kleinen Baches. Wir liefen los. Schritt für Schritt. Ich suchte nach meinem Platz in der Gruppe. Hauptsache nicht mittendrin. So lief ich mit zwei anderen voraus. An der Hauptstraße wollten wir nicht entlang laufen. Daher wählten wir den Weg entlang der kleinen Nebenstraße. Plötzlich prangte ein Sperrschild in unseren Weg. Die Straße war durch ein Baufahrzeug blockiert. Wir bogen also ab und wollten unseren Weg einfach in der Parallelstraße fortsetzen. Mit energischen Rufen wurden wir jedoch davon abgehalten. Die anderen der Gruppe waren bereits weiter in der Straße gelaufen. Direkt auf die Baustelle zu. Ein innerer Drang wollte lieber auf der Parallelstraße gehen. Doch einfach wo anders lang gehen wäre nicht angemessen gewesen. Bescheid geben konnte ich nicht mehr. Die beiden Therapeuten, welche uns begleiteten waren bereits schon zu weit in Richtung Engstelle gegangen. Ich trottete verunsichert hinterher. An der Baustelle wurden wir harsch von den Arbeitern zurecht gewiesen. Mein Bauchgefühl täuschte mich also doch nicht immer...
Die Gruppe lief gemächlich weiter. Hier und da wurde ein Gespräch geführt. Mir was nicht zum Reden zu Mute. Ich fand keinen Rhythmus. Keinen erträglichen Platz in der Gruppe. Ich fühlte mich in der Mitte unwohl. So ließ ich mich ein Stück zurückfallen. Doch das Tempo der anderen lag mir nicht. Zu langsam zum Laufen, aber zu schnell zu schlendern. Einfach komisch. So suchte ich meinen eigenen Rhythmus, mein eigenes Tempo. Ich lief und lief. Lief an den Therapeuten und den anderen Mitpatientinnen vorbei. Immer den Weg entlang. Der kleine Bach gluckerte behände vor sich her. Vereinzelt kreuzte eine Amsel den Weg. Eine Spaziergängerin mit Hund lief mir entgegen. Ab und an streckten bereits die ersten Schneeglöckchen ihre zarten Spitzen aus dem Boden. Das Stimmengewirr der Gruppe hinter mir wurde mit jedem Schritt immer leiser.
An der nächsten Weggabelung wartete ich. Wartete auf die anderen und musste mein inneres Bedürfnis weiter zu gehen ausbremsen. Es dauerte einige Augenblick bis die ersten in meinem Blickfeld auftauchten. Nun warteten wir gemeinsam auf die anderen. Als wir die beiden Therapeuten sehen konnten beschlossen wir den Weg auf der anderen Seite des Baches zurück in Richtung Klinik einzuschlagen. Ich versuchte mich dem Rhythmus der anderen anzupassen doch ich fand kein Tempo. Kein Tempo, was mich beruhigen konnte. Mit einem Gespräch versuchte ich mich zu bremsen. Es funktionierte nicht. Etwas trieb mich vorwärts. Ich lief und lief. Schritt für Schritt. Immer entlang des kleinen Baches. Plötzlich waren die Stimmen verstummt. Doch das nahm ich nicht mehr wirklich wahr. Wie in einem Film lief ich weiter. Als der kleine Bach im Untergrund verschwand stoppte ich. Niemand von der Gruppe war zu sehen. Ich wartete. Wartete einige Minuten. Doch die Gruppe war nicht gefolgt. Ich war unschlüssig. Sollte ich an dieser Stelle weiter warten? Nach einem Blick auf die Uhr beschloss ich den selben Weg zurück zu gehen. Hoffentlich der Gruppe entgegen. Doch keine Gruppe war zu sehen. Ich lief und lief. Lief den gesamten Weg zurück. Wie in Trance. Meine Füße wollten weiter laufen. Ohne Ziel – einfach weiter. Einfach weg... Doch ein letztes, kleines Fünkchen Vernunft führte mich zurück zur Klinik. Die Gruppe war jedoch nicht zu sehen.
Auf der Treppe begegnete mir der schlaksige Therapeut. Er war sichtlich erleichtert. Man hätte mich angerufen. Das konnte ich nicht bestätigen. Noch nicht, denn das Telefon lag mit allen anderen persönlichen Dingen im Schließfach. Ich holte es heraus. Tatsächlich waren mehrere Nachrichten auf dem Display zu sehen. Unmut bezüglich der letzten Stunden überkam mich...
Während der Mittagspause hatte ich mich immer noch nicht beruhigt. Hatte immer noch nicht das Gefühl wieder im Hier und jetzt zu sein. Ich war ausschließlich körperlich anwesend. Meine Gedanken kreisten im Nirgendwo. Trinken fiel mir unsagbar schwer. An Essen war nicht zu denken. Daher verkroch ich mich in den Ruheraum im Dachgeschoss.
In der nächsten Therapieeinheit fühlte ich mich vollkommen fehl am Platz. Psychoedukative Schulung zur Schematherapie stand auf dem Plan. Meine Bezugsschwester, welche hierbei die Leitung inne hat, erklärte mir, dass ich diese Stunde bereits durchlebt hätte. Vor meinem Aufenthalt auf der Station stand Psychoedukation tatsächlich bereits schon einmal auf meinem Plan. Doch die Erinnerungen waren sehr wage. Sie insistierte gleichzeitig aber auch, dass ich bleiben solle. Mein Körper nahm auf einem der leeren Stühle Platz. Gedanklich war ich mittlerweile wieder in der Tagesklinik angekommen. Nur meine Emotionen waren noch immer unterwegs. Liefen immer noch an dem kleinen Bach auf und ab...
Ich konzentrierte mich auf ihre Stimme. Verfolgte angespannt jedes ihrer Worte. Dennoch fühlte ich mich wie erstarrt. Wollte nur weg. Wollte laufen. Doch ich war mir nicht sicher wohin. So fixierte ich ein Bild an der Wand mit meinem Blick. Bloß nicht gedanklich abdriften. Diese forderte mir so viel Kraft ab, dass ich ihr nicht sinnvoll antworten konnte. Und mit jeder Ansprache fühlte ich mich schlechter...
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