Der Tag brach an. So wie die Tage zuvor anbrachen. Doch eine immanente Veränderung hatte er beibehalten – die Infektionsschutzmaßnahmen. Heute fielen wieder alle Therapieangebote aus. Ausschließlich die tägliche Visite fand statt. Je nach Wochentag gestaltete sich diese hier jeweils ein wenig anders – zumindest in normalen Zeiten. Montags war die große Visite mit dem Oberarzt Herrn Professor Unaussprechlich. Dienstags und mittwochs gab es eigentlich eine Gruppenvisite, die den täglichen Morgenrunden in der Tagesklinik recht vergleichbar sind. Donnerstags fand dann in Zeiten ohne Sondermaßnahmen der mit „Pflegevisite“ bezeichnete Rundgang des Pflegepersonals statt. Diese kamen meist im Doppelpack und stellten Fragen nach dem Befinden und sonstigen Anliegen. Zu guter Letzt stand freitags eine Zimmervisite durch ein Ärzteteam an. Doch aktuell war ja alles anders.
Ich hatte mich mit einem neuen Buch in meine Decke gekuschelt und las. Lesen – etwas was schon eine geraume Weile nicht mehr so wirklich ging. Selbst ein kurzer Bericht in einer Tageszeitung schien mir schier zu viel zu sein. Selbst nach mehrmaligem Lesen hatte ich mir nicht merken können um was es darin eigentlich geht... Doch hier hatte ich zu ganzen Büchern zurück gefunden. Ich hatte sogar Spaß daran. „Blöde Depression“ dachte ich mir, „selbst das letzte kleine Stück Vergnügen versuchst du mir noch zu rauben“. Obwohl das so nicht stimmig war. Erst im Sommer hatte ich mehrere Seiten für die Vorbereitung und die Umsetzung einer großen Veranstaltung lesen – und verstehen müssen. Das ging. Es ging, da es von mir erwartet wurde. Von den anderen und vor allem von mir selbst. Den Inhalt dieser Lektüre konnte ich mir auch recht gut merken und mit den entsprechenden Punkten argumentieren.
Aber warum gelang es mir in den letzten Monaten nicht, ein wenig Trivialliteratur für mich selbst zu entdecken? Auch wieder so solche Symptome dieser Krankheit – Konzentrationsschwäche und Vergesslichkeit. Ich war einfach zu enttäuscht von mir selbst, wenn ich nach mehrmaligem Lesen einer Textpassage scheinbar immer noch nicht verstanden hatte, was damit gemeint war. Und somit wandte ich jeweils meine altbekannte Schematik an - „Kannst du es eh nicht, dann lass es doch gleich bleiben“.
Zum Glück konnte ich nun wieder die Konzentration auf die Seiten eines längeren Textes richten. Vielleicht auch weil ich hier die freudige Vertieftheit anderer in ihre Bücher beobachten konnte. Zwei von den Mitpatientinnen konnten sich schier nicht von den Seiten trennen. Sie verschlagen die Bücher augenscheinlich Selbst in der oftmals unruhigen Sitzecke am Ende des Stationsflures waren sie selig in das jeweilige Buch vertieft... Kaum war die letzte Zeile des einen Romans aufgesaugt stand schon der nächsten Thriller zur Verfügung. Aus den Klappentexten und den Erzählungen der beiden konnte man entnehmen, dass es sich vornehmlich um Klinikgeschichten handelte. Jedoch keine Herzschmerzliebesgeschichten sondern harte, spannungsgeladene Stories.
Ich hatte mir mein Buch von zu Hause mitgebracht. Gekauft hatte ich es jedoch bereits vor vielen Jahren. Doch ich hatte nie wirklich die Muse es bis zum letzten Satz zu lesen. „Erklär mir deine Welt – Das Geheimnis der Gesprächsführung – Therapeutische Gespräche und ihre Grundlagen“ prangte als Überschrift auf dem Umschlag. Das Buch war in zwei Teilen aufgebaut. Der erste Teil war recht verkopft und behandelte die Theorien einer gesunden Gesprächsführung. Es las sich zäh. Mir war nun auch klar, weshalb ich nie über die ersten Seiten hinweg kam. Die Thesen wurden in meinem Dafürhalten fachlich gut aufgearbeitet und der Versuch, wissenschaftliche Lehre in einer verständlichen Sprache darzubieten, gelang den Autoren gewiss. Doch man musste sich darauf einlassen – zum Beispiel einlassen auf den Gedankenansatz von „leerer“ und „vollen“ Sprache. Und auf die Annahme des Gedankengebäudes aus „Die 5 Axiome der Kommunikationstheorie von Paul Watzlawick“. Ich musste mich darauf einlassen. Trotzdem las sich der erste Teil etwas zäh. Aber ich las. Ich las konzentriert und ich verstand. Die zweite Hälfte des Buches befasste sich mit Fallbeispielen. Mit scheinbar real stattgefundenen Gesprächen. Im Gegensatz zu den ersten Kapiteln kam hier eine viel einfacherer – eine im täglichen Leben gesprochene - Sprache zum Ausdruck. Jedes „eh“ und „ähm“ fand Einzug in die Zeilen. Es wirkte authentisch. Zum Ende jeden Dialoges wurden noch einmal die Grundzüge dieser Unterhaltung und die entsprechenden Grundlagen der angewandten Gesprächsführung aufgearbeitet. Was mir in den Jahren davor nicht gelang, schaffte ich hier innerhalb weniger Tage. Ich hatte das Buch geschafft. Wahrscheinlich war es genau der richtige Zeitpunkt dafür – hier und jetzt in der Klinik. Oder ich war einfach endlich erwachsen genug dafür. Ich bin stolz auf mich...
Der Bücherwurmreigen wurde ganz unmerklich durch mich erweitert. Bücher wurden geteilt und zum Lesen weiter gegeben. Die junge rothaarige Mitpatientin, welche viel jünger aussah als das es ihr Geburtsdatum konstatierte, lieh mir ein Buch. Selbiges hatte sie sich von einer Patientin einer anderen Station, welche sie hier in der Klinik beim Rauchen kennengelernt hatte, ausgeliehen. Eine tolle Tradition – Freude und Vergnügen teilen... Der Titel „Achtsam Morden: Ein entschleunigter Kriminalroman“ weckte Spannung. Doch angesichts der über vierhundert Seiten war ich skeptisch. Skeptisch darüber, ob ich diesen Umfang in angemessener Zeit lesen könnte. Und schon waren sie wieder da – diese Grübeleien über die Erwartungen an mich selbst. Und diese Zweifel. Ich legte das Buch erst einmal zur Seite...
Wahrscheinlich war ich auf dem Bett eingenickt, denn ich erschrak als plötzlich die Ärztin im Zimmer stand. Hatte ich den Termin für das Gespräch denn schon wieder verpasst? Genau aus dieser Befürchtung heraus hatte ich mir doch extra eine Erinnerung ins Handy gespeichert. Ich fragte mich, ob ich zu dumm gewesen war um diese auch exakt zu speichern. Doch ich konnte mich beruhigen. Es war noch nicht Zeit für diesen Termin – die Ärztin war mit einer Schwester zur Visite ins Zimmer gekommen.
So verging der Vormittag. Es wurde Zeit für das Einzelgespräch. Ich wartete also wie vereinbart vor dem Ärztezimmer. Der Zeiger der Uhr schlich. Sollte ich anklopfen? Oder doch besser nicht? Vielleicht führte sie ja gerade noch ein Gespräch mit jemand anderem und durfte oder besser gesagt wollte ich da stören? Nein...! Ich wartete also noch ein wenig. Als jedoch der Zeiger genau die Uhrzeit des Termins zeigte, klopfte ich vorsichtig an der Tür. Wenige Wimpernschläge spätere bat mich die Ärztin in das Dienstzimmer. Mir folgte eine jungen Frau. Sie war mir unbekannt. Was bei dem ständigen Trubel auf Station auch nicht verwunderlich war. Frau Doktor stellte mir die junge Studentin vor und fragte, ob diese bei dem Gespräch dabei sein könne. Welch Frage – wie solle denn sonst die Ausbildung sinnvoll gestaltet werden. Ich gab meine Zustimmung.
Seit dem ich den ersten Termin für ein Gespräch erhalten hatte, war mir der Gedanke suspekt. Ich fragte mich nach dem Sinn. Ganze vier Wochen war ich nun schon hier in der Klinik auf dieser Station und hatte kein Einzelgespräch. Auch war das Datum für den Wechsel zurück in die Tagesklinik bereits schon seit einigen Tagen bekannt. Ich war verwirrt. Aber ich gab mich der Situation hin. Mein Kopf hegte Misstrauen in den Zweck. Doch eine Wahl gab es nicht. Zumindest nicht, wenn ich endlich die Chance nutzen wollte. Und ich war mir wieder ganz klar, dass ich sie nutzen will. Jedoch war ich ungläubig, ob mir ein ständiger Wechsel der Gesprächspartner und ein damit scheinbares Verharren in den immer gleichen Gesprächsstrukturen hilfreich sein könnte. Jetzt war ich aber da und lies mich auf diese Unterhaltung ein. Mit dem Mundschutz, den wir alle drei trugen, wirkte es etwas befremdlich. Es machte die Situation jedoch in ihrer Zweifelhaftigkeit glaubwürdig.
Das Gespräch verlief – sagen wir mal – etwas unrund. Ich hatte mir eine Gesprächsstruktur gewünscht, in der die Ärztin den Faden in der Hand hielt. Doch dem war nicht so. Ob bewusst oder unbewusst. Anfänglich fragte sie, ob ich mich denn bereits einmal mit der Symptomatik meiner Erkrankung befassen konnte. Sie wollte wissen, ob mir bereits einmal ein psycho-edukatives Therapieangebot unterbreitet worden sei. Wenn ich genau überlege ja – zwar eher indirekt aber dennoch ja... Und ich habe mich viel mit der Wissenserweiterung dies bezüglich im Internet beschäftigt. Aber eine direkte psycho-edukative Einheit im Rahmen einer Therapie hatte ich in all den Jahren nicht.
Wir unterhielten uns. Im Rückblick hatte dieser Dialog auch eine eindeutige Ausrichtung. Doch ich zweifelte angesichts des bereits feststehenden Wechsels zurück in die Tagesklinik immer noch an der Möglichkeit zum Aufbau eines tragfähigen therapeutischen Vertrauensverhältnisses. Dies war aber nicht in ihrer Person sondern einfach in der Zeitspanne begründet.
Zum Ende unserer Sitzung kamen wir zum Thema Schematherapie und deren einzelnen Modi-Einteilungen. Ich hatte mich damals – vor einem Monat – bereits in Hinblick auf die Tagesklinik damit beschäftigt und auch schon den ersten näheren Einblick in dem Gespräch mit meiner dortigen Bezugsschwester erhalten können. Vieles konnte ich im Lesen und Hören bereits auf mich adaptieren. Bloß jetzt fiel es mir schwer, die einzelnen Anteile auf mich zu benennen. Ich konnte es nicht. Irgendetwas stellte sich quer. Die Ärztin gab mir daher einen Auszug aus einer wissenschaftlichen Abhandlung, in der die einzelnen Modi erläutert wurden. Sie gab mir zusätzlich noch diese Übersicht mit der Überschrift „Situationsbogen“. Dieser gliedert sich innerhalb einer Tabelle in die Punkte „Situation“ – „Reaktion“ und „Konsequenz“. Wobei der Punkt „Reaktion“ noch in die Unterpunkte „Gefühl“, „Gedanken“, „körperliches Empfinden“ und in „Verhalten“ kategorisiert ist. Selbigen Bogen hatte ich bereits in der Tagesklinik von meiner Bezugsschwester erhalten. Der Bogen war mir damals schon suspekt. Mein innerer Widerstand machte sich erneut in meinen Gedanken breit. Wollte oder konnte ich nichts damit anfangen?! Die angebrisene, klare Struktur des Situationsbogens war mir wohl nicht klar genug. Oder war sie mir dann doch zu verkopft strukturiert? Ich konnte es gedanklich drehen und wenden, aber ich fand kein einziges Beispiel bei dem ich alle Spalten hätte – in meinen Augen sinnvoll – ausfüllen können.
Im Laufe des Tages beschäftigte ich mich noch einmal intensiver mit den Unterlagen. Ich las mir den Auszug mit den Beschreibungen der einzelnen Schematherapie-Modi mehrfach durch und beschloss, die auf mich zutreffenden Passagen farblich zu markieren. Es war einiges was ich markierte. Abschnitte denen ich vollkommen zustimmen konnte strich ich in grün an. Punkte die zwar auf mich zutreffend sind, aber in meinen Augen nicht mit der Kategorisierung in den jeweiligen Modus auf mich anwendbar erscheinen, kennzeichnete ich mit einem orangen Stift.
Schließlich blieb ich wieder an dem Situationsbogen hängen. Ich konnte mein Gedankenkarussell drehen und wenden wie ich wollte. Vor und zurück. Von links auf rechts – von oben nach unten. Keine Gegebenheit hatte aus meiner Sicht den Wert in solch einem Bogen aufgenommen zu werden. Es scheiterte daher bereits an möglichen Situationen. Zumindest konnte ich mir keine in meinem Kopf generieren. Mit den Spalten „Reaktion“ und „Konsequenz“ sowie den dazu gehörenden Unterspalten, stellte sich es ebenso unlösbar dar.
Ich nahm daher noch einmal die Modi-Übersicht zu Hand und betrachtete mir die gekennzeichneten Textteile unter dem Fokus des Bogens. Dabei fielen mir vor allem die orange markierten Worte ins Auge. Gab ich vielleicht zu schnell auf? Fehlte mir die Disziplin und das Durchhaltevermögen für diesen Bogen? Oder wollte und konnte ich mich in diesem Zusammenhang gar nicht mit meine Gefühlen und Gedanken beschäftigen? Verbot ich mir das Ausdrücken von Gefühlen und Bedürfnissen hierbei vielleicht sogar? Viele Fragen und doch keine Antworten – ich legte die Unterlagen einfach wieder zur Seite. Am Nachmittag trafen sich einige Patient_Innen auf ein Stückchen Kuchen in einem Café in der Innenstadt. Es roch lecker nach frisch gemahlenem Kaffee. Es war voll und ein fröhliches Stimmenmeer durchzog die Räume.
Als wir zurück zur Klinik kamen lief uns die Patientin, welche erst nach langen Diskussionen die Klinik verlassen hatte, im Gelände über den Weg. Sie konstatierte, dass sie wieder aufgenommen sei. Jedoch habe sie noch kein Gespräch mit einem Arzt oder Therapeuten gehabt und daher erst einmal ihre Tasche wieder in mein - in unser - Zimmer gestellt. Da sich ja aber keiner so richtig um sie kümmere und sie ja auch nicht nur so herumsitzen könne, wollte sie erst noch einmal in die Stadt um einige Besorgungen zu machen. Meine innere Stimme schrie zum Himmel. Auch die anderen schauten sich nur unverständig an. Ihr war wahrscheinlich nicht klar, dass eine Wiederaufnahme trotz Aufnahmestopp wegen der Influenza-Schutzmaßnahmen wie ein Lottogewinn betrachtet werden könnte. Nach einigen Augenblicken mit sehr viel Überzeugungskraft konnte wir sie kollektiv von ihrem Vorhaben abhalten. Sie ging also wieder zurück auf die Station und wartete auf die Dinge, die jetzt noch folgen mussten.
Meine Vernunft sagte mir, dass wir richtig gehandelt hatten. Unser Karma war daher wieder um einigen positiver. Doch mein Bedürfnis nach Selbstfürsorge hatte einen Kopf-Tisch-Moment und schlug sich die Stirn an der nächsten Hauswand blutig. Warum habe ich mich nicht raus gehalten? Reisende solle man doch nicht aufhalten! Und warum lasse ich mich damit wieder auf eine Situation ein, die mir eine repetitive, sich endlos wiederholende und immer wiederkehrende Diskussionschleife einbringen würde. Notfalls müsste ich einfach nur stark sein und es zu einem Monolog verkommen lassen – doch ob dies möglich ist, konnte ich in dem Moment nicht einschätzen.
Als ich ins Zimmer kam stand zwar ihr Rucksack im Raum aber sie war nicht da. Sie hatte vermutlich gerade noch ihr Wiederaufnahmegespräch. Ich setzte mich also auf mein Bett und las weiter in dem „Achtsam morden“-Buch. Viele Achtsamkeitsempfehlungen des Autors sollte ich wohl einfach mal auf mich anwenden. Gedanklich gefiel mir ja am meisten der Spaziergang mit den Problemen und der Gedanke daran, dass ich die Lösungen dabei ganz gemütlich hinzu gesellen würden. Aber ganz eindeutig musste ich wohl noch intensiver lernen nicht das zu tun was ich nicht tun wollte.
Plötzlich flog die Tür auf und sie kam schnellen Schrittes durch das Zimmer. Schnappte sich ihre Tasche und verschwand wieder. Durch die geschlossenen Tür konnte ich nur hören, wie die Stationsleitung ihr versuchte klar zu machen, dass nicht sie es sei, die entschied in welchem Zimmer sie unterbracht werden würde. Sie bekam also ihr neues Bett im Zimmer gegenüber.
Mein Hoffen hatte sich erfüllt und trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl. Aber ich hatte es nicht zu entscheiden...
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