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Bewältigungsmodi

Die Nacht war kurz. Schlaf fand ich nur, weil ich den Laptop bewusst in der Küche gelassen hatte. Fehlten doch immer noch Beiträge von den letzten Tage. Und langsam verlor ich die Struktur der Erinnerungen. Einzig die Notizen schafften ein wenig Ordnung in die Erlebnisse... Doch es war genug. Hatte ich doch die meiste Zeit bereits geschrieben. Mehrere Tagen verfasst. Mein Perfektionismus hätte eigentlich befriedigt sein können. Aber nein. Er war nicht zufrieden und hing mir mahnend im Nacken.

Viel zu früh war ich erwacht. Weiter schlafen? Nein... Dafür war ich zu wach. Zu aktiv. Zu unruhig. Ich packte meine Sachen zusammen und ging. Die Nacht war mild gewesen und daher waren die Scheiben am Auto nicht beschlagen. Ich fuhr los. Fahl trat die winterliche Morgensonne ihren Dienst an. Leichte Pastelltöne zierten den Horizont. Berufsverkehr. Stau...


In der Villa der Tagesklinik herrschte schon geschäftiges Treiben. Der Gruppenraum war jedoch noch verwaist. Doch diese angenehme Ruhe hielt nicht lange an. Nacheinander trafen sie ein. Auch zwei Neue. Mit der Ruhe war es vorbei. Ich wünschte mir, dass sie einfach mal die Klappe halten würden. Wollte ich doch meine Gedanken aufschreiben. Weiter an den Tagen arbeiten. Meine Gefühle und Eindrücke notieren. Die Sätze fließen lassen. So aktuell wie möglich. Nicht erst wieder mit einer halben Ewigkeit Abstand. Mit einem Abstand, der die Empfindungen verwässerte. Der die Gedanken abstumpfte. Ihnen die Aktualität nahm... Waren doch noch immer einige Tage nicht aus meiner Erinnerung geschrieben... Leider war dies aber nicht möglich. Der Lärmpegel im Raum stieg. Stieg stetig an. Unsinnige Gespräche wurden künstlich am Laufen gehalten. Nur keine Ruhe aufkommen lassen. Nur nicht nachdenken müssen, so schien die Einstellung zu sein. Unaushaltbar. Einfach viel zu laut. Viel zu geschäftig. Ich floh - ging in den Ruheraum neben an und wechselte auf mit meiner Konzentration auf den heutigen Tag. Schrieb mir die letzten Minuten aus der Seele. Schrieb in der Hoffnung, dass es erträglicher werden würde. Schrieb mich einfach davon...

Die Morgenrunde stand an. Hatte ich den Beginn über dem Schreiben doch fast verpasst. Unverzeihlich wäre es gewesen. Unentschuldbar. Waren diese Morgenrunden doch Bestandteil des Tages. Des Therapieinhaltes... Frau Unbekannt und eine Psychologiestudentin betraten den Raum. Nacheinander erzählten die Patient*innen von ihren Wochenenden, von den Plänen für die kommende Woche und vom jetzigen Befinden.

Meine Unruhe wurde immer größer. Das neutrale Gefühl zum Tag schwand. Schwand innerhalb weniger Augenblicke ins Bodenlose. War fast nicht mehr vorhanden. Aushalten. Durchhalten. Nur nicht wieder in den Fluchtmodus verfallen... Die Menschenmengen ertragen. Die Ansprüche erfüllen. Einfach nicht aus der Rolle fallen. Den Erwartungen stand halten. Hier blieben. Nicht nur körperlich sondern ganzheitlich...

Ich war an der Reihe. Gedanken flogen mir durch den Kopf. Sätze bilden. Verständliche Sätze. Scheinbar unmöglich. Ich stammelte los. Kryptische Wortfetzen, die sich nicht recht zu sinnvollen Aussagen fügten. Nur eines war mir klar – das Wochenziel: Aushalten – Durchhalten – und nicht flüchten.

Die Waage war freundlich. Die Zahl im Display war zwar immer noch weit, weit entfernt von einem gesunden Zustand, doch sie war kleiner geworden. Innerhalb einer Woche hatte sie sich verringert... Ich konnte aufatmen...

Bewegungstherapie hätte jetzt auf dem Plan gestanden. Doch für einige von uns fiel sie heute wegen terminlicher Überschneidung aus. Wurde doch die Psychoedukationseinheit zur Schematherapie in diesen Zeitrahmen gelegt. Galt es also die dadurch entstehende Pausenzeit sinnvoll zu nutzen. So suchte ich mir einen Platz zum Schreiben. Wollte ich doch endlich mit dem Schreiben aktuell sein. Meinen eigenen Ansprüchen gerecht werden.

Der Geräuschpegel im Haus legte sich allmählich. Ich ließ mich im Speisesaal nieder. Der Gruppenraum war mir suspekt. Zwischenzeitlich waren hier zwar fast keine Menschen mehr – trotzdem konnte ich mich nicht mit der Vorstellung, die nächste Stunden – die nächsten Minuten hier zu verbringen, anfreunden.

Die Konzentration lag auf dem heutigen Tag. Er war noch nicht alt. Hatte eigentlich noch nicht wirklich berauschende Geschehnisse gebracht, doch füllte er bereits eine gesamte DIN-A4-Seite. Ich war verwundert. Kam es also doch nicht auf die Quantität der Ereignisse und Emotionen an, sondern auf die Qualität. Darauf, was mich im hier und jetzt blockierte...

Die Ruhe schwand. Einige, die die morgendlichen Sonnenstrahlen zu einem kurzen Spaziergang nutzten, kehrten bereits zurück... Meine Konzentration war wie weggeblasen. Kein vernünftiger Satz entstand. Ich war frustriert. So wechselte ich unstet zwischen den einzelnen Tagen und Beiträgen hin und her...

Die Kursstunde begann. Gespannt saßen alle am Tisch und lauschten den Worten. Heutiges Thema: „Die äußere Bühne“ - Bewältigungsmodi im Schema-Modus-Modell... Und da waren sie – meine Wege der Strategien. Erdulden, Vermeiden und Flucht - Sie bekamen einen Namen. Bewusst war ich mir dieser Taktiken bereits. Hatten sie ja lange genug Zeit sich einzuschleifen. Teilweise waren sie auch praktiziertes Kalkül. Doch nun wurde mir das Ganze immer deutlicher vor Augen geführt. Und das tat nicht gut. Tat nicht gut, da augenblicklich einer der Modi in Aktion trat... Erdulden. Die Umstände der Einheit erdulden. Das Gehörte erdulden. Bloß nicht den anderen Modus aktiv werden lassen. Bloß nicht aufstehen und weg laufen. Würde weglaufen doch keinerlei Lösung herbei führen. Würde weglaufen wohl möglich den aktuellen Status nur noch verschlimmern... Ich hielt mich im Raum. Körperlich und geistig. Alles andere wäre nicht von Erfolg gekrönt... Doch die Anspannung wuchs ins Unermessliche. Hände, Arme, Beine, Bauch krampften sich zusammen... selbst die Zähne biss ich schmerzhaft zusammen... Es würde mich nicht wundern, wenn ich morgen eine Art Muskelkater verspüren würde...

Urplötzlich stand ein weiteres Schlagwort im Raum: Intellektualisierung. Sie erklärte den Begriff. Eine Art Abwehrmechanismus gegenüber von Gefühlen und Emotionen, bei dem die Situation durch Überbetonung des Verstandes auf Logik und Rationalität reduziert wird. Nur keine Gefühle spüren – nur sachlich verstehen. Und genau in solch einem Zustand befand ich mich gerade...

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