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Ein fast verpasster Gewinn...

Nach einer eher unruhigen Nacht erwache ich pünktlich. Der Tag hat noch in mir gearbeitet. Aber ich fühle mich optimistisch. Ich habe das Gefühl, dass ich angekommen bin. Angekommen in der Tagesklinik. Angekommen in der Chance auf eine Veränderung. Der morgendliche Ablauf geht einfacher und ich komme sogar pünktlich an. Die alltägliche Morgenrunde wird wieder von der Stationsleiterin begleitet. Die einen sagen mehr, die anderen wie an den anderen Tage weniger. Heute ist auch Oberarztvisite. Im Zimmer, wo die Tablettenschälchen und – noch viel wichtiger – der Kaffee bereit stehen, hängt ein Plan mit der Reihenfolge aus. Nur ohne zeitliche Orientierung. Wer bereits sein Gespräch hatte, solle dem nächsten Bescheid geben. Irgendwie scheint dies jedoch nicht so recht zu funktionieren. Auch das mit dem Abstreichen auf der Liste ist heute rudimentär ausgeprägt. So harren wir der Dinge, die da kommen. Ich nutze jedenfalls gleich die Gelegenheit und nehme mein Tablettenschälchen für heute und den Tablettenbrief fürs Wochenende und verstaue das Ganze in der Tasche. In der Ergotherapieeinheit konnte ich mich darauf verständigen, dass ich an meinem Blog schreiben darf. Irgendwie kann ich mich mit Häkeln, Stricken oder Korbflechten nicht anfreunden... So schreibe ich die ersten Seiten. Dazu durfte ich mich in den Ruheraum verkriechen, denn dort ist etwas mehr Ruhe als im Werkraum. Auch ist mir die Atmosphäre in den Ergotherapieräumen eher unangenehm. Außerdem sind ja alle Gruppenmitglieder in einem relativ kleinen Raum zusammen gedrängt. Und Gedränge ist aktuell überhaupt nicht mein Ding. Genau so wenig wie Menschen... Ich sitze jedenfalls oben im Ruheraum und schreibe und schreibe. Ich bin so in den Zeilen gefangen, dass ich sogar die Pause und den Beginn der nächsten Therapieeinheit verpasse. Als ich zu Bewegungstherapie hinzu komme ist gerade ein Tischtennisspiel im Gange – chinesisch, abgewandelt... Ich reihe mich für die letzten Minuten noch ein. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es die anderen mehr anstrengt als mich. Ich bin froh, dass mir dieses Symptom der Depression diesmal erspart geblieben ist. Vor 11 Jahren war ja jeder Schritt eine unüberwindbare Entfernung. Heute kann ich zum Glück auch mehrere Kilometer am Stück laufen. Also eher gehen – gemütlich gehen. Zwar merke ich die Anstrengung, die es mit sich bringt aber ich kann es... Und darüber bin ich froh. Der Geruch nach Essen ist wieder unaushaltbar. So überlege ich, was ich machen kann. Mir fällt ein, dass ich für meinen neuen Personalausweis ja auch noch ein aktuelles Bild im Stile Fahndungsfoto brauche. So sage ich im Schwesternzimmer Bescheid, dass ich mal in Richtung Stadt gehen werde. Die Stationsschwester ist etwas verdutzt, denn sie denkt ich wolle zum Bürgerservice. Nach kurzer Erklärung, dass ich nur nach einem Termin bei Fotografen fragen will, sagt sie meinem Ausflug zu. Ich möge mich jedoch beeilen, denn ich war ja noch nicht zur Visite. Sie meinte aber auch, dass ich notfalls noch etwas nach hinten geschoben werden könne, sollte ich zum geplanten Zeitpunkt wieder da sein... Der Fotograf ist freundlich. Der Laden wirkt sehr klein. Das kann aber auch an den vielen ausgestellten Bildern liegen. Einen konkreten Termin brauche ich nicht. Ich solle einfach nur ganz entspannt vorbei kommen und dann ginge es auch schon los. Die Bilder wären auch am nächsten Tag fertig. Was mich beruhigt, denn so kann mein selbst gesteckter Terminplan auch funktionieren. Ich mache mich wieder auf den Weg zurück in die Tagesklinik. Wir sitzen noch ein wenig im Gruppenraum und witzeln über dies und das. Ja auch depressive und psychisch kranke Menschen können Lachen und Witze machen. Und das ist auch gut so... Zur Visite war ich immer noch nicht. Es ist jedoch auch klar, dass es bei 30 Patient*innen und nur einem Oberarzt, der die Visite durchführt, ein wenig dauern kann... Ganz ehrlich – das ist mir auch ein wenig egal – ich habe schließlich nicht wirklich was vor an diesem Nachmittag. Die nächste Ergoeinheit verbringe ich wieder in der 3. Etage im Ruheraum. Die Blogseite wächst. Die Zeilen entstehen wie im Flug. Da die Tastatur der Tablet-Books ein wenig klappern, mache ich mir Gedanken, dass ich die anderen damit stören könnte. Doch es interessiert sie gar nicht. Sie haben entweder einen guten Schlaf oder Kopfhörer auf den Ohren. Oder auch beides. Die eine Mitpatientin aus einer anderen Gruppe fragt mich, was ich denn hier schreibe. Die Erklärung fällt mir gar nicht so schwer. Mag vielleicht auch daran liegen, dass ich es schon ein paar Menschen erzählt habe. Sie hört gespannt zu und vielleicht wird sie ja auch irgendwann einmal mitlesen. Die Stunden rinnen und die Worte fließen. Die Kaffee- und Kuchenrunde habe ich ganz verschrieben. Ganz ehrlich – es stört mich auch nicht. Ich husche hinunter in den Ergoraum. Der Therapeut möchte nach jeder Einheit eine Statusmeldung haben. Er möchte wissen was man geschafft hat und wie es einem damit ergangen ist. Es ist jedoch nur seine Kollegin anwesend. In der Abschlussrunde geht es darum, wie der Tag war und was jede*r Einzelne für das Wochenende geplant hat. Die eine Mitpatientin beschwert sich, dass die Wartezeit auf die Visite so unheimlich lang wäre. Und ihr passt nicht, dass es bei einigen Patient*innen länger dauert und wiederum andere relativ schnell mit dem Gespräch fertig sind. Ich bin froh, dass sich das Team die Zeit nimmt, der jede*r individuell benötigt. Und dafür warte ich auch gern die ein oder andere Minute länger... Bei mir steht nicht viel an. Ich muss die letzten Tage erst einmal verarbeiten und will einfach nur meine Ruhe. So endet dann nach den ganzen Statements die letzte Abschlussrunde der Woche. Einige waren immer noch nicht zur Visite dran und müssen noch ein wenig bleiben. Ich kümmere mich mal um das noch dreckige Geschirr. Eigentlich sollte man denken, dass der Abwasch bei Vorhandensein zweier Geschirrspüler nicht allzu umständlich sein sollte. Eigentlich. Ich stelle den einen Spüler an. Der zweite muss vor wenigen Minuten fertig geworden sein. Das Geschirr ist noch warm. Also beschließe ich, die sauberen Tassen, Teller und Gläser in das Regal zu räumen. Eine Mitpatientin hilft mir spontan. Doch wir müssen feststellen, dass es echte Helden unter uns gibt. Haben nicht ein paar Spezi ihr benutztes Geschirr in die soeben fertig gewordene Spülmaschine geräumt. Wir sortieren also. Nicht nur Tassen und Teller sonder auch noch nach sauber oder schmutzig. So kommt doch tatsächlich mit allem noch einmal eine volle Geschirrspülmaschine zusammen. Auf dem Regal in dem Speiseraum stehen noch die Kannen mit Kaffee und Teewasser. Ich frage nochmal bei den Wartenden, ob sie noch eine Tasse Kaffee möchten. Den Rest schütte ich weg und spüle die Kannen aus. Schließlich will niemand am Montag „lebende“ Reste in den Kannen finden. Das Warten hat ein Ende – ich werde zur Visite gerufen. Und genau in dem Moment erinnert mich mein Telefon an eine Treffen auf dem Weihnachtsmarkt – heute – gleich.... Irgendwie hatte ich diese Verabredung ganz verdrängt. Und das obwohl wir uns schon seit einigen Tagen darauf verständigt hatten. Ich schicke schnell eine WhatsApp-Nachricht, dass ich mich verspäten werde. Mein Visitegespräch verläuft ganz angenehm. Der Oberarzt – Herr Professor Unaussprechlich, und meine Bezugsschwester sind anwesend. Es geht um die letzten Tage. Ja die letzten Tage waren schwierig, aber nun – ich glaube ich bin angekommen. Es wird wohl noch einige Höhen und Tiefen geben, aber ich bin angekommen – ich bin bereit für die nächsten Schritte. Er lächelt mich freundlich an. Anschließend besprechen wir noch einmal die aktuelle Medikation. Sie soll ab Montag ein Stück weit angepasst werden. Sein Blick scheint mich fragend anzuschauen. Soll ich jetzt sagen was richtig ist? Oder ist das wieder so eine rhetorische Gesprächsführung? Ab Montag gibt es das eine Medikament dann in reduzierter Dosis und die anderen bleiben. Wir werden sehen, wie es sich auswirkt. Mein Wochenende kann beginnen. Ich verlasse die Tagesklinik in Richtung Stadt. In Richtung Weihnachtsmarkt. Ich werde bereits am vereinbarten Treffpunkt erwartet. Wir wollen einen Kaffee trinken gehen. Glühwein würde ich ja lieber – aber mein Magen will das nicht so recht. Und außerdem darf ich ja nicht – Klinikregel... Wir suchen ein Café. Im Ersten, welches wir betreten, fühle ich mich nicht wohl. Ich kann nicht wirklich sagen weshalb – aber es ist so... Als der Angestellte sagte, dass heute in ca. 45 Minuten geschlossen werde muss, bin ich froh... Wir ziehen weiter in Richtung Altstadt. Am Markt befindet sich eine Kaffeerösterei. In der oberen Etage kann man ganz gemütlich sitzen und einen Kaffee trinken. Kuchen gibt es auch. Wir gehen nach oben. Auf Grund des Weihnachtsmarktes ist heute ganz schön viel Betrieb. Doch wir finden einen Platz. Die Bedienung nimmt die Bestellung auf und nach einigen Minuten haben wir unsere Kaffeespezialitäten. Wir reden. Wir reden über dies und das. Wir reden über die Klinik und die Geschehnisse der letzten Tage. Das Reden tut mir gut. Die Zeit vergeht. Plötzlich werden wir geben zu zahlen, denn in einigen Minuten schließt die Rösterei. Hoppla – schon so spät... Wir zahlen und gehen nach draußen. Meine Begleitung hat zwischenzeitlich das Bedürfnis auf eine Rostbratwurst. Wir steuern Ziel gerade – scheinbar ihren Lieblingsstand an. Die Wurst sieht gut aus, doch ich kann mich nicht überwinden. Jeder Bissen, jeder Schluck tut mir seit ein paar Tagen weh. Aber ich kann den Geruch aushalten. Ein Stück weit auch genießen... Ich bin zufrieden... Mit mir und der Situation... Auf dem Weg zur Bahn kommen wir am Losstand vorbei. Ein Los muss sein. Ich nehme 5 Stück und lasse mir diese von dem netten älteren Verkäufer aussuchen. Er hat ein gutes Händchen, denn ich gewinne gleich zweimal. Einmal Reinigungstücher fürs Auto – endlich mal saubere Scheiben, denke ich... Und einen Gutschein für eine Baumarktkette... Es sind keine ganz großen Preise, aber es hat sich gelohnt. Ich freue mich... Ich begleite sie noch ein Stück auf dem Heimweg und fahre dann mit der Straßenbahn weiter... Als ich daheim angekommen bin, merke ich, wie mich dieser Tag doch angestrengt hat. Und ich frage mich, ob es normal ist, dass ich mich nach schönen Momenten immer so ausgelaugt und traurig fühle... In der Tablettenschale liegt noch ein kleiner Schokonikolaus. Ein süßer Gruß der Tagesklinik. Ich muss schmunzeln. Niedlich.... Es ist bereits etwas später als das ich sonst die Tabletten nehme. Es dauert nicht lange und ich schlafe ein...

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