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Eine Frage des Vertrauens...

Der Wecker klingelt. Eigentlich sind es mehrere Weckzeiten, die ich bereits seit Wochen – wenn nicht sogar seit Monaten, nach einander programmiert habe. An manchen Tagen – den guten Tagen – reicht ein Wecker und ich kann die anderen deaktivieren. In den letzten Tagen und Wochen habe ich aber das Gefühl, dass eine ganze Kapelle vor meinem Bett stehen könnte und ich trotzdem nicht wirklich wach und bereit für den Tag werde. Die Zeit rennt – ich muss ja pünktlich sein. Daher quäle ich mich aus dem Bett und in Richtung Bad. Die Morgentoilette läuft automatisiert ab. Doch mein Blick ist wie eingefroren. Ich suche mir die Kleidung für den heutigen Tag heraus, ziehe anschließend noch Schuhe und Jacke an und mache mich auf den Weg zur Bahn. Mit dem Song „Columbo“ der fünfköpfigen, österreichischen Rock-Band Wanda aus Wien in den Ohren versuche ich die Welt von mir fernzuhalten. Überall Menschen. Ich mag keine Menschen. Heute noch weniger als an den anderen Tagen. Ich versuche mich mit dem Lied abzulenken. Doch plötzlich beginnen mir die Tränen über das Gesicht zu fließen. Aber es ist mir egal ob jemand schaut. Denn es interessiert doch eh niemanden – ich interessiere niemanden. Und ob ich da bin oder nicht ist doch auch egal... Die Bahn hält und ich muss auf den Anschlussbus in Richtung Klinik warten. Es ist bereits spät. Es ist nicht klar ob ich pünktlich sein werden. Plötzlich tauchen 2 Personen auf, die aktuell auch dort in Behandlung sind. Es erleichtert mich ein wenig. Entweder reicht die Zeit doch noch oder die Frist zum Ankommen wird nicht ganz so genau genommen. Die beiden stehen jeweils einige Meter entfernt und wir versuchen uns gegenseitig zu ignorieren. Vor der Eingangstür zur Villa hadere ich mit mir. Damit ob ich das Ganze Prozedere durchhalten werde oder ob alles doch sinnlos ist. Ich zweifle daran, ob ich das Gebäude betreten soll. Durch die Tränen kann ich kaum aus den Augen schauen und ich merke wie mir die Luft knapp wird. Ich suche das Nasenspray in der Tasche und zumindest meine Nase fühlt sich danach befreit an. Einige Personen huschen an mir vorbei und verschwinden in der Klinik. Mit zähem Schritt folge ich ihnen. Die Treppe knarzt. Wenn ich den nun begonnenen Weg weiter gehen werde, wird mich diese Geräusch wohl noch einige Zeit begleiten. Ich erhöhe die Lautstärke der Kopfhörer. Im Gruppenraum sitzen die meisten bereits um den Tisch. Auf dem Tisch stehen zwei Töpfe mit weiß-rosa Weihnachtssternen. Vor jedem einzelnen liegen zum größten Teil die persönlichen Unterlagen für den Tag. Einige haben sich eine Tasse Kaffee oder Tee geholt und essen etwas Obst oder eine Joghurt. Und meine Kehle schnürt sich beim Betreten des Raumes noch fester zu. Ich will nur weg. Meine Jacke hänge ich über den Stuhl und setze mich mit der Lehne vor dem Bauch an den Tisch. Die morgendliche Runde soll gleich beginnen. Die blonde Patientin, die mir gegenüber sitzt lächelt mich freundlich an. Aber ich kann nicht reagieren – ich bin wie eingefroren – wie steif in meinen Gedanken und Gefühlen. Nur die Musik hält mich aktuell aufrecht und vom Wegrennen ab. Die Lautstärke ist mittlerweile am Anschlag. Ob die anderen etwas hören? Die Stationsleitung betritt den Raum und setzt sich – rechts von ihr ein leerer Stuhl zwischen uns. Der Patient, welcher eigentlich da sitzt ist nicht erschienen. Mit den Händen über den Ohren versuche ich die Kopfhörer zu verbergen. Eigentlich sind technische Geräte zur Ablenkung und Musik während den einzelnen Therapieeinheiten nicht gewünscht, nicht erlaubt – ja eigentlich sogar verboten. Diese Morgenrunde, zu der alle vom Abend und dem Start in den Tag berichten sollen gehört auch zum hiesigen Therapiekonzept. Die Schwester schaut mich an. Ihr Blick wirkt ein wenig flehend. Sie sieht mir meinen Zustand und meine innere Not an. Sie spricht mit mir. Ihre Worte gelangen jedoch nicht durch die Musik zu mir. Mein Blick hängt starr im Raum. Ich will weg – einfach weglaufen. Doch ich habe das Gefühl das dies undankbar ist. Undankbar gegenüber meines Arztes, der mir diesen Therapieplatz innerhalb weniger Tage organisieren konnte. Auch undankbar gegenüber dem Personal der Klinik. Und vor allem undankbar und unfair gegenüber den anderen Patient*innen, welche teilweise mehrere Monate auf diese Chance warten mussten. Ich fühle mich schuldig. Aber auch wertlos. Die Morgenrunde ist in vollem Gange. Die Patientin, die links neben der Schwester sitzt, durfte beginnen. Was sie berichtet dringt nicht an mein Ohr. Die Tränen verwässern meinen Blick. Sie wollen einfach nicht stoppen. Ich lasse den Kopf auf meine verschränkten Arme auf die Stuhllehne vor mir sinken. Ab und an blinzle ich in die Runde. Die einen sagen mehr, die anderen weniger über ihren vergangenen Abend. Nun spricht der junge Mann neben mir. Sein linkes Bein zappelt schon die ganze Zeit. Das scheint ihm die Anspannung ein wenig zu nehmen. Mich macht es verrückt. Es tut mir weh – in der Seele, im Kopf, am Körper und im Bauch. Ich will weg – einfach nur weg. Wohin? Keine Ahnung – nur raus! Doch ich bin wie erstarrt – nur die Tränen fließen unaufhörlich. Im Augenwinkel kann ich durch den Tränenschleier wahrnehmen wie mich die Stationsschwester erneut anspricht. Ich kann nicht antworten. Ihr Blick wirkt fragend und scheinbar ein wenig verzweifelt. Es tut mir leid, dass ich sie in diese Situation bringe. Doch ich kann gerade nicht anders. Die Gedankenkreise, welche der Fragebogen am Vorabend ausgelöst hat, halten mich gefangen. Plötzlich streckt sie die Hand in meine Richtung. Alles läuft sekundenschnell, aber dennoch wie in Zeitlupe ab. Mich an meine Tasche krallend rutsche ich mit meinem Stuhl in Richtung Zimmerecke von ihr weg. Die Situation ist für mich – und wohl auch für alle anderen – unerträglich. Es ist bereits Zeit für die nächste Therapieeinheit. Die anderen nehmen ihre Unterlagen und persönlichen Dinge und verlassen nach einander den Raum. Ich kann mich nicht bewegen. Auf dem anderen Stuhl sitzt immer noch die Schwester. Sie schaut mich mit einem verzweifelten Blick an. Durch meinen Tränenfilm kann ich sie jedoch nur mit leeren Augen anstarren. Sie versucht mich erneut anzusprechen. Die Musik läuft auf voller Lautstärke. Ich möchte gern antworten, doch es geht nicht – ich bin in mir gefangen. Zum Glück versucht sie nicht näher zu kommen. Dafür bin ich ihr unsagbar dankbar. Ihre Professionalität weißt ihr in dem Moment den richtigen Weg. In mir erwächst dadurch das Gefühl, dass ich ihr vertrauen kann. Irgendwann. Jetzt noch nicht – aber irgendwann... Sie steht auf und verlässt den Raum. Mit einem Blick zu mir zurück, welcher mir offen mitteilt, dass sie für mich da ist – das alle Beschäftigten für mich da sein werden, wenn ich dazu bereit bin – entschwindet sie im Flur. Sie tut mir in ihrer scheinbaren Hilflosigkeit so undenkbar leid – doch es geht nicht – ich kann nicht anders... Zwischenzeitlich sollte ich eigentlich auch endlich wie die anderen beim Hirnleistungstraining sein. Ich kann nicht. Ich sitze da und kralle mich an meiner Tasche fest. Meine Blockade hat mich selbst davon abgehalten diese ins Schließfach zu tun. Nach einer gefühlten Ewigkeit schleiche ich mich in die Toilette und schließe mich in der Kabine ein. Bei jedem Geräusch, das ich jetzt selbst durch die Musik wahrnehme, habe ich Angst. Angst davor was passieren könnte. Was das sein könnte weiß ich jedoch nicht. Ich brauche Sauerstoff – ich will an die Luft. Runter vor den Haupteingang kann ich nicht. Jeder Schritt würde auf der Treppe zu viele Geräusche verursachen. Ich befürchte, dass dies die schlimmsten Befürchtungen in den Schwestern auslösen könnte. Die Situation überfordert mich. Mein Leben überfordert mich. Meine Gefühle bringen mich zur Verzweiflung und die Grübeleien sind unerträglich. Ich will weg. Einfach einschlafen. Ich wünsche mir, dass alles vorbei ist. Gleichzeitig will ich aber auch kämpfen. Um mich. Um die schönen Dinge im Leben. Um die Abende mit den Konzerten mit den Mädels. Um die Stunden am Meer und um all die anderen Momente. Neben dem Speisesaal ist ein Balkon. Die Sonne scheint an diesem Dezembermorgen. Die Luft ist kühl aber die hölzerne braune Bank ist trocken. Ich setze mich. Schließe die Augen. Höre Musik und atme langsam aus und wieder ein. Ganz allmählich beruhige ich mich ein wenig. Die Sonnenstrahlen streicheln mein Gesicht. Mir wird kalt. Wie viel Zeit vergangen ist kann ich nicht sagen. Mit viel innerem Kraftaufwand kann ich mich aufraffen. Als ich den Speisesaal wieder betrete, steht die Stationsschwester in der Tür und blickt mich an. Die Tische sind in U-Form angeordnet. Sie kommt langsam in meine Richtung. Ich werde wieder unruhig und völlig angespannt. Wie in einem schlechten Film weiche ich nach der anderen Seite aus. Sie bleibt stehen und wechselt bedächtig die Richtung. In meinen Gedanken beginnt sich ein Fangspiel abzuzeichnen. Ich komme mir so unheimlich dumm vor. Sie geht weiter in die eingeschlagene Richtung um die Tische und eröffnet mir somit die Möglichkeit den Raum zu verlassen. Im Flur muss ich mich entscheiden. Entscheiden ob ich die Treppe nach unten nehme und damit notwendige Reaktionen des Personals auslösen muss, welche ich nicht möchte. Oder ob ich die Stufen nach oben nehme. Nach oben in den Ruheraum im der 3. Etage. Der Ruheraum ist angenehm mit Tageslicht durchflutet. Weiß gestrichene Holzbalken stützen die Dachkonstruktion. An einigen Stellen kann man den Balken ihr ehrwürdiges Alter ansehen. In der hinteren Erker-ecke liegen zwei Matratzen auf dem Boden. Darauf ein paar Kissen und je eine hellblaue oder eine gelbe Decke. Auf der linken Raumseite stehen drei Sofas. Mit hellen Tagesdecken und mit Kissen, welche durch Blattmuster verziert sind. Die dunkelblauen Decken sind akkurat zusammengefaltet worden. Davor ein niedriger Couchtisch auf dem eine imposante Zamioculca-Pflanze steht. Rechts neben der Eingangstür befindet sich ein weitere Tür, welche zusätzlich noch in den 3. Gruppenraum führt. Daneben befindet sich eine weitere große Zimmerpflanze und ein Fernsehsessel mit Fußstütze. Mein Blick schweift über die weiteren 3 Rattanliegen die unter der rechten Dachschräge stehen. Überall sind Kissen und Decken vorhanden. An der hohen Wand stehen die zwei Sofas. Das dritte Sofa ist im Winkel dazu unter der Dachschräge Richtung Erker-ecke angeordnet. Ich entledige mich meiner Schuhe und lege mich auf das hintere Sofa. Meine Füße sind eiskalt. Ich mummele mich in die vorhandenen Decken und in meine Jacke ein. Der Geruch nach meinem Waschmittel gibt mir ein wenig Sicherheit. Ich schließe die Augen und bemühe mich durch konzentriertes Atmen ein wieder ein wenig zur Ruhe zu kommen. Es gelingt mir teilweise. Die Musik hat auch gewechselt – weg von dem einen einzelnen Lied hin zu meiner Sommer-Konzert-Playlist. Auch die Lautstärke konnte ich ein wenig reduzieren. Was jedoch dazu führte, dass wieder mehr Geräusche von mir wahrgenommen werden konnten. Jeder Laut auf dem Flur machte mich nervös. Jedes Mal wenn die Tür geöffnet wurde, überlief mich ein Schauer. Menschen kamen einzeln oder in kleinen Grüppchen in den Raum. Nahmen auf einer der anderen Liegemöglichkeiten Platz und verließen nach einer gewissen Zeit den Raum wieder. Obwohl ich in den letzten Tagen kaum etwas getrunken hatte, musste ich zur Toilette. Wahrscheinlich wegen der kalten Füße. Doch die Treppe lies es nicht zu, dass ich mich nach unten schleichen konnte. Jeder Schritt wurde durch ein Knarren kommentiert. Doch ich hatte Glück. Kein Mensch begegnete mir. Auch auf dem Rückweg nach oben blieb mir eine Begegnung erspart. Ich verkroch mich wieder in meiner Kissen-, Decken und Jackenhöhle, schloss die Augen und beobachtete trotzdem blinzelnd jede Bewegung im Raum. Die Zeit verging. Die Tränen versiegten allmählich. Ab und an öffnete sich die Tür ohne das jemand den Raum wirklich betrat. Die jeweilige Person blickte in den Raum und verschwand wieder. Personal? Patient*in? Ich wusste es nicht... Mir sind noch alle fremd... Mir ist alles noch fremd und unheimlich. Ich habe das Gefühl, die Kontrolle über mich und über das was mit mir passiert zu verlieren. Ich muss wieder nach unten. In das kleine Bad in der oberen Etage kann ich nicht, denn es findet gerade ein Diagnosetest statt. Im Haus riecht es nach Essen. Es ist Mittagszeit. Die Personen, die mir begegnen scheinen mich gar nicht wahrzunehmen und zu beachten. Ich husche möglichst lautlos nach unten und beeile mich schnellst möglich wieder nach oben zu gelangen. Der Geruch ist unerträglich... Der Nachmittag vergeht und die Akkuleistung meiner Kopfhörer neigt sich dem Ende zu. Das Lade-gerät liegt in meiner Wohnung. Doch noch ein paar Minuten kann mich die Musik von der Realität des Klinikalltages isolieren. Der junge Mann, der aktuell den Gruppensprecherposten inne hat schaut nach mir. Mit den Kopfhörern im Ohr und den geschlossenen Augen erwecke ich bei ihm wohl den Eindruck das ich schlafe. Blinzelnd verfolge ich jede seiner Bewegungen. Ich bemühe mich so ruhig wie möglich zu atmen. Er geht wieder. Es ist Zeit für die Abschlussrunde des Tages. Plötzlich spüre ich eine Berührung an meinem linken Unterarm. Ich fahre zusammen. Schrecke hoch. Ich muss doch tatsächlich eingeschlafen sein. Die Stationsschwester beugt sich zu mir herunter. Ich bin verwirrt – kann die Augen kaum aufhalten. Alles dreht sich. Und die Tränen beginnen wieder zu laufen. Vor Schreck? Oder aus Verzweiflung? Verzweiflung vor dem was jetzt kommen mag. Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit um ihr zu antworten. Eigentlich war es mehr eine Ansammlung von Lauten als eine tatsächliche Antwort. Sie setzt sich auf das Sofa, welches im rechten Winkel nebenan steht. Sie macht sich Sorgen, dass sehe ich. Sorgen darüber was jetzt, was heute noch passieren könnte. Sorgen darüber, was sie nun tun soll. Ich versuche mich aufzusetzen. Klammere mich an meiner Jacke und an dem Kissen fest. Und heule wie ein Schlosshund. Sie reicht mir die Box mit den Taschentüchern. Meine Nase schwillt zu. Ich bin verzweifelt und mutlos. Hoffnungslos. Alle Zweifel über den Sinn meines Seins brechen über mich herein. Ich fühle mich nutzlos. Mache anderen nur Sorgen. Ich vermiese ihr den Feierabend. Es ist mittlerweile nach 16 Uhr. Und in meinem Kopf spielt sich das Mantra, der Überflüssigkeit, der Nutzlosigkeit, des Wunsches nach dem Ewigen Schlaf ab. Sie fragt mich was sie tun könne, wie sie mir helfen soll. Ich habe keine Kraft für eine vernünftige Antwort. Eigentlich kann ich gar nicht antworten. Ich bin erstarrt – nur die Tränen laufen. Ich zucke mit den Schultern. Sie bemüht sich um ein Lächeln. Ein Lächeln, welches ein wenig Hoffnung heraufbeschwören will. Es gelingt nicht. Wir sitzen uns schräg gegenüber. Langsam schaffe ich es ihr ins Gesicht zu sehen. Ein freundliches, gütiges Gesicht. Kurze, dunkle, leicht wellige Haare umspielen es. Die dunklen Augen sind verständnisvoll und dezent geschminkt. Ihr Blick lässt aber auch ein wenig Strenge erahnen. Sie wiederholt ihre Fragen. Einmal. Zweimal. Gar öfter. Es wirkt alles wie hinter einem Schleier gebunden. Keine Antwort gelingt mir. Bin erstarrt. Verzweifelt. Sie fragt erneut, was sie tun könne. Und mein inneres Kind fleht nach Geborgenheit. Einer Berührung. Einem Menschen, der in diesem Moment alle Verantwortung von mir nimmt. Jemanden, der mich einfach ganz fest hält. Jemanden, der die Umarmung auch dann nicht löst, wenn ich mich aus diesem Halt winden will. Doch ich kann es nicht artikulieren. Vielleicht wäre es so einfach. So heilend. Doch es geht nicht. Und dann stellt sie eine Frage. Die Frage, die wohl den weiteren Verlauf des Gespräches, des Tages und der Nacht – wenn nicht sogar der nächsten Wochen und Monate oder gar Jahre bestimmen könnte: „Denken Sie aktuell an Suizid?!“ Mein Atem stockt. Ihr Blick erstarrt merklich. Ich will nur weg. Sie fragt erneut. Ganz langsam. Vorsichtig, zärtlich aber dennoch mit Nachdruck. Die Antwort fällt mir schwer. Ich schwanke zwischen der ehrlichen Antwort und der seit Jahren beständigen Lüge. Meine Gedanken kreisen. Es vergehen scheinbar gefühlt einige Sekunden. Ihr Blick fixiert mich und ich habe das Gefühl ihm nicht entkommen zu können. Etwas kämpft in mir und ein ganz kleiner Anteil bringt mich dazu, mich mit der Wahrheit zu identifizieren. Der Wahrheit, welche ich schon seit mehreren Jahren mit mir trage. Die ich noch nie wirklich äußern konnte: JA... Die Wahrheit, die von den wenigen Menschen, denen gegenüber ich mir bisher getraut habe sie zu äußern, es bisher nicht verstanden und diese dann nieder geredet haben und danach aus meinem Leben verschwunden sind. Die Wahrheit, die mir bisher gelehrt hat, dass sie nur noch zu mehr Verlusten und seelischen Schmerzen führt. Ja, die Wahrheit, die bei anderen dazu führte, dass sie sich in der Geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Einrichtung wiederfanden. Die Wahrheit, die ich daher damals in der Klinik verschwieg. Ich will nicht mehr schweigen und schon gar nicht mehr lügen. Ich will meine Chance nutzen. Ich will ihr und allen anderen vertrauen. Doch ich habe auch Angst vor dem, was danach kommt. Nach einem tiefen Atemzug antworte ich ihr mit leiser Stimme. „Ja ich denke seit einiger Zeit darüber nach...“ Sie fragt ob ich es aktuell konkret plane. Nein. Aber ich habe mich mit gedanklich mit mehreren Methoden beschäftigt. Ich sage ihr aber auch, dass ich es nicht aktiv voran treiben will. Ich kann ihr aber nicht zu 100 Prozent zusichern, dass ich einer Chance zu Sterben aus dem Weg gehen würde. Wir sehen uns fragend an. Ich merke ihr an, wie sie innerlich die Punkte des nun notwendigen Protokolls durch geht. Der nächste Schritt – die Information der heute zuständigen Stationsärztin. Ich fühle mich für mein Vertrauen und meine Ehrlichkeit verraten. In diesem Moment betritt meine Bezugsschwester den Raum. Sie stimmen sich kurz ab. Die Worte, die sie genau sprechen wabern an mir vorbei. Ich bin durcheinander und verzweifelt. Mir ist schlecht. Ich will zur Toilette. Und ich will einfach nur weg. Das sage ich ihnen auch mit zitternder Stimme. Doch das geht nicht. Das Thema Suizid steht im Raum. Und es klingt für die beiden bedrohlicher als für mich. Ich kann nicht verstehen, warum sie denken, dass es heute passieren soll. Ausgerechnet heute? Wo mich diese Gedanken doch schon einige Jahre begleiten. Meine Bezugsschwester versucht mir zu erklären, dass sie die Verantwortung ab diesem Punkt nicht mehr übernehmen dürften. Das sie als Pflegepersonal dazu nicht befugt seien. Und das ich durch die Zustimmung zu Aufnahme in der Tagesklinik einen Teil der Verantwortung für mich und mein Leben an das medizinische Personal abgeben hätte. Das weiß ich. Ich kenne viele Beschäftigte im Pflegebereich aus meiner ehrenamtlichen Arbeit. Und ich kenne mich intensiv genug im PsychKG (Gesetz zur Unterbringung von psychisch kranken Personen) aus. Ich versuche noch, die beiden davon zu überzeugen, dass ich in meine Wohnung darf. Das ich nur Schlafen will und morgen wieder da wäre. Doch die Maschinerie ist bereits ins Laufen gekommen. Die Stationsschwester erläutert mir noch die nächsten möglichen Schritte. Verstehen kann ich es trotzdem nicht – vom Verstand her schon – nur das Gefühl verweigert sich. Sie sagt auch, dass die nächsten Schritte notwendig werden weil ich mich nicht ausreichend distanzieren könne. Distanzieren von was? Von wem? Ich habe große Fragezeichen im Kopf. Dieses Fachtermini entzieht sich meinem Verständnis. Im Schwesternzimmer versucht meine Bezugsschwester mittlerweile die Oberärztin zu erreichen. Mir ist schwindlig und ich rutsche bei dem Versuch meine Schuhe anzuziehen um nochmal auf Toilette zu gehen und danach der anderen Schwester ins Erdgeschoss zu folgen, fast von der Couch. Sie erschrickt. Ich probiere ihr zu versichern, dass in dieser Beziehung alles gut sei und wir versuchen beide, uns ein zögerliches Lächel abzuringen. Ich gehe in das kleine Bad im Obergeschoss. Nach dem ich die Tür aus Gewohnheit verriegelt habe überkommen mich die Zweifel, ob das jetzt nicht als ein gefährliches Signal gedeutet werden könnte. Es dauert eine geraume Zeit bis ich meine Gedanken einigermaßen sortieren konnte. Wenn das in dieser Situation nicht gar zu viel verlangt sei. Meine Jacke und meine Tasche liegen noch in dem Ruheraum. Meine Brille liegt noch auf dem kleine Tischchen auf dem auch mein Kaffeebecher steht. Ich gehe um alle zu holen. Die Schwester steht im Flur und beobachtet mich. Sie wirkt müde. Gleichzeitig aber scheinbar auch erleichtert darüber, dass ich mich nicht im Bad eingeschlossen habe. Sie geheißt mir vor ihr die Treppen hinunter zu gehen. Die Treppenstufen seufzen bei jedem unserer Schritte ein Klagelied. Die Tür zum Schwesternzimmer steht offen und ich solle doch eintreten. Ich kann nicht. Meine Bezugsschwester teilt uns mit, dass sie noch keinen zuständigen Arzt erreichen konnte und immer noch auf der Suche nach der richtigen Telefonnummer sei. Ich bleibe im Flur vor der Tür stehen. Immer die Ausgangstür im Augenwinkel. Einen kurzen Moment später kann ich hören, dass sie jemandem die Situation schildert. Sie bitten mich erneut in das Schwesternzimmer. Aus irgendeinem Grund habe ich Angst davor es zu betreten und versuche mich anstatt dessen in die andere Richtung zu schleichen. Schrittchen für Schrittchen. In Richtung der Bildergalerie mit den Fotos der Beschäftigten der Tagesklinik. Das Knarren der Dielen verrät mich. Das Haus vereitelt somit jeden lautlosen Fluchtversuch. Ein kurzes, verzweifeltes Grienen huscht mir über das Gesicht. Im Gleichen Moment steht die Stationsschwester im Flur. Ihr Gesicht spiegelt ihre Anspannung wider. Ich fühle mich schuldig. Schuldig für den verdorbenen Feierabend der beiden. Schuldig für den ganzen Stress und schuldig für die Sorgen, die sie sich wohl auch noch in den nächsten Stunden machen werden. Und dann steht noch meine Bezugsschwester mit dem tragbaren Telefonhörer im Flur. Ich weiß nicht ob sie dachte, dass ich weggelaufen wäre. Ich glaube das wäre recht sinnlos gewesen, denn die beiden wären wohl viel flinker unterwegs als ich... Sie spricht weiter mit der zuständigen Oberärztin. Das Telefon ist so laut eingestellt, dass ich jedes Wort verstehen kann. Die Oberärztin besteht darauf, dass ich für ein weiteres Gespräch ins Haupthaus gebracht werde. Die Schwester teilt mir dies mit. Sie scheint nicht zu ahnen, dass ich jedes Detail mithören konnte. Sie blickt mich fragend an. Aber ich kann ihr nur wiederholend mitteilen, dass ich in meine Wohnung möchte und schlafen will. Sie trägt das an die Oberärztin weiter. Dieser erläutert nun am Telefon die übrigen Möglichkeiten. Die Schwester stellt den Hörer laut. Ich kauere mich in der Ecke des Flures zusammen und bin verzweifelt. Bin wütend. Wütend auf mich. Wütend auf mein Vertrauen. Wütend auf meine Entscheidung ehrlich zu sein. Aber es gibt kein Zurück mehr... Es gibt nur noch die Entscheidung zwischen drei Möglichkeiten: 1. ich gehe gezwungen freiwillig mit meiner Bezugsschwester zu dem Gespräch im Haupthaus, 2. Sie müsste den Notarzt rufen, der mich dann voraussichtlich zu dem Gespräch ins Haupthaus geleiten würde oder 3. sie würden mich jetzt mit einem sehr sehr unguten, besorgtem Gefühl gehen lassen und müssten dann das große Orchester von Sozial-psychiatrischem Dienst, Polizei und ggf. Feuerwehr alarmieren. Ich solle mich nun für eine der Varianten entscheiden. Sarkastisch teile ich mit, dass ich Variante 4 – „Jetzt nach Hause gehen und morgen wieder in die Tagesklinik kommen“ wählen möchte. Doch diese Option steht nicht zur Debatte. Die Stationsschwester erläutert mir auch die Gefahr einer öffentlichen Polizeifahndung, sollte ich mich doch nicht dem Gespräch fügen. Meine Bezugsschwester hat sich zwischenzeitlich ihre Jacke geholt und die Tasche umgehängt. Wir gehen nun mehr oder sehr viel weniger freiwillig in Richtung Ausgangstür. Als wir feststellen, dass diese und die Zwischentür zum Vorraum bereits abgeschlossen waren und ein Versuch davon zu laufen dadurch ja schon verhindert worden wäre, müssen wir beide ein wenig grinsen. Wir gehen in Richtung Straße, welche zum Hauptgebäude führt. Eine stark befahrene Haupteinfallstraße der Stadt. Sie muss noch ihr Fahrrad holen und ich bleibe in der Einfahrt zum Gelände der Tagesklinik stehen. Ich merke wie sie ständig nach mir schaut. Aber ich habe nicht vor davon zu laufen. Wozu? Das würde doch alles nur noch schlimmer machen. In mir keimt die zarte Hoffnung auf, die Ärztin doch noch davon zu überzeugen, dass ich in meinem Bett schlafen kann. Also laufen wir gemeinsam die Straße entlang. Es ist mittlerweile dunkel geworden. Sie sinniert, dass jetzt wieder die Zeit begonnen hat, in der man im Dunklen auf Arbeit und im Dunklen wieder nach Hause kommt. Ihre Worte klingen nachdenklich. Doch ich mag diese Zeit, denn im Dunklen sieht man das Elend weniger. Sie schiebt ihr Rad neben mir her. Das Vorderlicht flackert in einem beständigen Rhythmus. Plötzlich touchiert sie mit dem Fahrradlenker einen Laternenmast. Ironisch sage ich, dass sie doch bitte die Stadtmöbel in Frieden lassen solle. Ihr fragender Blick trifft mich. Für eine ausschweifende Erklärung fehlt mir jedoch die Kraft. Meine Gedanken rotieren um das was mich nun erwarten wird. Wir betreten gemeinsam das Hauptgebäude. Die Glaskanzel der Zentralen Aufnahmestelle ist bereits verwaist. Verständlich, denn es ist bereits nach 17 Uhr. Sie fragt mich ob ich auf Station 1 oder lieber auf Station 7 möchte. Gute Frage. Aus Ermangelung an Wissen, welche Stationsnummer nun was bedeutet überlasse ich ihr die Entscheidung. Sie schlägt Station 7 vor. Ein langer verwinkelter Gang führt uns in ein anderes Gebäude. Sie aktiviert mit Ihrem Schlüssel den Fahrstuhl und wir gelangen in den Stationsbereich. Eine junge Schwester begrüßt uns freundlich. Mittlerweile kann auch ich leicht gequält lächeln. Ich habe mich meinem Schicksal teilweise ergeben. Nach ein paar Minuten Aufenthalt in einem Warteraum werden wir jedoch an die andere Station verwiesen. Auf dem Weg dahin teilt mir meine Bezugsschwester bedauernd mit, dass es sich jetzt doch um die geschlossene Abteilung der Klinik handeln würde. Das Gefühl des Verrates erstarkt erneut in mir. Sie klingelt. Es erfolgt jedoch keine direkte Reaktion. Ich stehe etwas abseits und halte mich an dem Geländer der Treppe, welche in Richtung Ausgang führt, fest. Meine Bezugsschwester schaut mich skeptisch an. Eigentlich sollte sie doch aber bereits realisiert haben, dass ich nicht davon laufen werde. Das wäre ja schließlich wenig Erfolg versprechend und würde mich keine Meter weiter bringen. Nach einem erneuten Läuten öffnet eine junge Gesundheits- und Krankenpflegerin die Tür. Dahinter eine weitere Tür, welche sich jedoch erst öffnet wenn die erste Tür wieder geschlossen ist. Nun stehe ich da. Auf der Station, die ich niemals in meinen Leben betreten wollte. Die junge Schwester fragt mich nach meinem Namen. Zwischenzeitlich ist meine Begleitung im hinteren Teil des Ganges verschwunden und unterhält sich mit weiterem Pflegepersonal. Die junge Schwester ist überzeugt, mich zu einem Bett bringen zu können. Ich lehne dankend aber vehement ab. Ich habe ein Bett. Ein Bett in meiner Wohnung. Und genau in diesem Bett will ich diese und die weiteren Nächte verbringen. Also heißt es nun warten. Warten auf die zuständige Ärztin. Eine junge Frau in weißem Kittel kommt den Gang entlang auf mich zu und fragt mich wer ich sei. Sie lächelt. Die Hand mag ich ihr nicht geben obwohl sie mir ihre freundlich entgegen reicht. Dies liegt aber einzig daran, dass meine Hände vor Aufregung schwitzig sind. Und ich finde nichts ist schlimmer als ein feuchter Händedruck. Das Arztzimmer kann nur mittels eines Schlüssels betreten werden. Darin befindet sich ein Schreibtisch mit mehreren Stühlen. Einige Schränke und eine Untersuchungsliege strukturieren den Raum. An der Wand hängt ein Kalender und an der Tür sind zwei Telefonnummern notiert. Die Ärztin fischt ein weißes DIN-A4-Blatt aus dem Drucker. Ihre Augen blitzen freundlich hinter der Brille hervor. Die Haut in ihrem Gesicht scheint ein wenig entzündet. Ihre dunkelblonden, schulterlangen Haar hat sie zu einem Zopf gebunden. Der Undercut lässt sich dadurch nicht verbergen. Irgendwie wirkt sie sympathisch. Sie fragt mich erneut nach meinem Name und der Adresse. Nachdem sie sich mein Geburtsdatum notiert hat, frage ich mich warum sie die ganzen Daten nicht aus der bereits erstellten digitalen Krankenakte entnimmt. Aber sie wird schon ihren Grund haben. Das Gespräch verläuft recht angenehm. Wir unterhalten uns über den Kongress und die letzten Tage in Berlin. Sie blickt bewundernd als ich ihr von den 1000 Teilnehmer*innen berichte. Und meine Ausführungen zu den Seminaren findet sie scheinbar auch spannend. Selbst das Thema und die wahrheitsgemäße Antwort, die mich in diese Situation gebracht haben, können wir besprechen. Ich beantworte die gleichen Fragen mit den gleichen ehrlichen Antworten. Zum Ende unserer Unterhaltung bin ich optimistisch, dass ich nun gehen darf. Doch dann der Schock... Sie sagt mir mit ernster Mine, dass ich erst einmal über Nacht auf der Station bleiben soll. Ich bin erstarrt. Ich bin enttäuscht. Das kleine bisschen Optimismus der letzten Minuten stürzt in sich zusammen. Sie schaut mich ein wenig bittend an und hofft wahrscheinlich auf meine Zustimmung. Doch ich wiederhole nur meinen Wunsch, den ich während unseres Dialoges bereits mehrfach geäußert habe: Ich möchte in meinem Bett schlafen. Damit geht das Ganze in die nächste Eskalationsstufe über – der sozial-psychiatrische Dienst wird angerufen. Die Bearbeiterin kündigt an, dass sie in ungefähr 30 Minuten vor Ort in der Klinik ankommen werde. Gegenüber dem Arztzimmer befindet sich der Besucherraum. Gemütlich ist er definitiv nicht mit seinem Tisch und dem lieblosen Bücherregal. An der Wand unter dem Fenster steht ein dunkelroter 2-Sitzer, dessen Bezug nicht gerade von Hygiene spricht. Daneben noch einige Stühle. Das Fenster kann nicht geöffnet werden. Es ist warm und riecht muffig. Eine Patientin sitzt mit einer Angehörigen am Tisch und spielt Karten. Sie wirkt ziemlich mitgenommen, fast schläfrig. Ihr Gespräch stockt. Ich nehme meine nicht mehr funktionierenden Kopfhörer aus der Tasche und stecke sie mir in die Ohren und beginne ein sinnloses Spiel auf meinem Handy. Ich versuche den beide dadurch wenigstens ein wenig das Gefühl von Privatsphäre wieder zu geben. Es scheint zu funktionieren, denn sie unterhalten sich weiter. Über den Besuch, welcher in den letzten Tage da war und wer sich denn für die nächsten Tage angekündigt hätte. Die Patientin beschreibt ihre Besucherin ihren Tagesablauf auf Station. Das Ganze wirkt sehr trist und trostlos. Mein Wunsch dieses Gebäude heute noch zu verlassen wird immer intensiver. Da ich mir die Hände waschen will spreche ich eine Schwester auf dem Gang an. Diese unterhält sich gerade gemeinsam mit einer weiteren Pflegekraft mit einer recht verwirrt wirkenden jungen Patientin. Ich frage nach der Toilette und die Schwester deutet mir, dass sich diese in meinem Zimmer befinden würde, in das sie mich doch jetzt bringen könnte. Ich teile ihr erneut mit, dass es nicht in meiner Absicht liege die Nacht auf Station zu verbringen. Beide schauen sich fragend an. Doch dann bringt sie mich zum Stationsbad. Die Tür öffnet sich nur mit Schlüssel. Auf der Badewanne liegt eine blaue Gummimatte. An der Wand ein Regal mit einigen Utensilien. Unter dem Fenster stehen zwei Waschmaschinen. Es riecht nach Waschmittel. Auf dem Wäscheständer liegen frisch gewaschene Fixierungsgurte. Ich setze mich auf die Toilette und atme tief durch. Im gegenüberliegenden Spiegel kann ich meine elend dreinblickende Gestalt betrachten. Das der Spülkasten defekt ist teile ich der Schwester auf meinem Weg zurück in den Besucherraum mit. Sie bedankt sich und wählt scheinbar gleich die Nummer des Hausmeisterservice. Kaum habe ich auf der Couch Platz genommen, öffnet sich die Tür und die junge Ärztin bitte mich zurück in des Besprechungszimmer. Meine Sachen solle ich doch gleich mitnehmen. Gesagt – getan. Im Arztzimmer reicht mir eine ältere Frau die Hand entgegen. Sie ist ein ganze Stück kleiner als ich und hat grau-blonde Haare. Sie trägt dezente Kleidung und eine passende Brille. Sie konstatiert mir, dass sie sich bereits mit der Ärztin unterhalten habe. Trotzdem werden mir die gleichen Fragen nun zum dritten Male gestellt. Die Situation nervt mich und ich werde ungehalten. Warum glauben nur alle, dass es ausgerechnet in dieser Nacht passieren soll. Ich frage sie schnippisch ob wir denn nun noch die Gaußsche Verteilungsformel oder die Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Überprüfung der statistischen Möglichkeiten heranziehen wollen. Sie schaut mich verschmitzt lächelnd an und meine aufbrausende Reaktion tut mir im selben Moment leid. Ich weiß, dass sie ihre Arbeitsaufgabe nur sehr gewissenhaft erfüllen will. Genau so gewissenhaft wie die beiden Schwestern der Tagesklinik und die junge Ärztin, die noch mit im Raum sitzt. So beantworte ich ihre Fragen nun so ruhig wie möglich und muss anschließend noch einmal den Raum verlassen. Meine Tasche und die weiteren persönlichen Dinge lasse ich im Ärztezimmer. Die beiden Frauen wollen sich beraten. Ich stehe also auf dem Flur und suche nach Ablenkung. Meine Anspannung ist unerträglich. Hoffentlich merkt mir das hier keiner an, denn ich befürchte, dass ich dann hier bleiben muss. Der Stationsflur ist ausgesprochen reizarm. Ein langer Gang mit grauen Türen, der durch seinen fahlen Anstrich die Hoffnungslosigkeit, die hier zu herrschen scheint nur noch unterstreicht. Und zu meinem Graus riecht es auch hier nach Essen... Ich finde eine Aushangtafel. Hinter einer Glasscheibe ist die Haus- und Stationsordnung angeschlagen. Interessieren tut sie mich nicht, aber ich beginne zu lesen. Hauptsache die Gedanken sind einen Moment still. Die ältere Dame steht vor der offene Tür zum Arztzimmer. Sie fragt mich ob ich denn noch einmal herein kommen würde. „Habe ich denn eine andere Wahl?“ frage ich zurück. Sie grinst und sagt nein. Ich entgegne ihr, dass die Frage ja dann obsolet sei. Wir lächeln. Wir verstehen uns. Im Sprechzimmer soll ich meine Vermutung zum weiteren Fortgang äußern. Ich befürchte das Schlimmste. Sie schaut mich an und erklärt mir dann, dass sie sich dazu durchringen konnte und ich in meine Wohnung gehen darf. Es wäre zwar gegen ärztlichen Rat, jedoch würde sie mir so viel Vertrauen entgegen bringen, dass ich morgen früh wieder pünktlich in der Tagesklinik sei. Dann füllt sie einen Dokumentationsbogen aus, auf dem neben meinen persönlichen Daten auch die möglichen Konsequenzen bei Nichteinhaltung dieser Absprache aufgelistet waren. Ich unterschreibe. Ich unterschreibe auch das Formular, welches mir die Ärztin reicht. Auf eine Kopie dieser Unterlagen verzichte ich, denn ich will nicht mehr an diesen Nachmittag erinnert werden. Ich werde durch die Schleuse am Stationseingang gebracht und kann das Gebäude und das Klinikgelände verlassen. Es ist 19:15 Uhr und ich laufe in Richtung Straßenbahn. In der Tasche noch ein Medikament für die Nacht. Da ich so durch einander bin, verpasse ich es an der richtigen Haltestelle aus zu steigen. Ich laufe die 500 Meter zurück – Bewegung tut bekanntlich gut. In meiner Wohnung angekommen stelle ich mich unter die warme Dusche. Versuche den Tag mit seinen aufwühlenden Ereignisse im übertragenen Sinne abzuspülen. Das warme Wasser tut gut. Nach der Einnahme der Medikamente lege ich mich in mein Bett. Kuschele mich in meine Decke und an mein Schmusekissen und schlafe überraschend schnell ein...

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