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Gibt es eine mentale Insel?

Die letzten Meter zur Tagesklinik laufe ich. Steige extra eine Haltestelle zuvor aus. Soll ich doch erst nach neun Uhr ankommen. Vorher wäre nicht sinnvoll, da um 9 Uhr die jeweiligen Morgenrunden stattfinden. Ich schlendere also so vor mich hin. Der Morgen ist angenehm kühl und die zarten Sonnenstrahlen kitzeln mich im Gesicht.

Als ich das altehrwürdige Gebäude betrete werde ich so gleich von meiner Bezugsschwester begrüßt. Sie führt mich zum Wiederaufnahmegespräch mit meinen Bezugspsychologen nach oben ins Dachgeschoss. Die Treppe hatte sich ihr Knarzen noch nicht abgewöhnt. Wie sollte sie auch – gehörten die Geräusche doch zur natürlichen Gegebenheit... Ein wenig heimisch fühlte es sich an. Die Geräusche und die Räume. Nur die Menschen hatten sich verändert. Nicht alle – aber viele. Einige Gesichter kannte ich bereits von meiner ersten Woche hier. Andere wiederum von Station. Mit einigen hatte ich mich doch schließlich auch zur „Badeverlängerung“ verabredet. Die junge Frau mit dem frischen Piercing umarmte mich herzlich...

Professor Unaussprechlich hatte sein Versprechen gehalten. Versprechen muss man schließlich auch halten – oder nicht eingehen... Ich hatte meine Bezugstherapeuten wieder. Musste mich also nicht wieder an neue Menschen gewöhnen. Erleichterung machte sich in mir breit. Hatte ich doch bis vor wenigen Minuten noch nicht so recht daran geglaubt. Ein wenig konnte ich mich entspannen... Doch wir gingen nicht in das mir bekannte Arztzimmer. Sie steuerte eine andere Tür an. Augenblicklich durchfuhr mich ein komisches Gefühl. Sollte es doch nicht der junge, blonde Psychologe sein? Ich stockte. War enttäuscht... Doch er öffnete die Tür und lächelte mich freundlich an. Mir wurde klar, dass er nicht wirklich ein eigenes Büro zu haben schien. Das Kinderfoto gehörte also scheinbar auch nicht zu ihm... Das war mir jedoch egal – schließlich konnte mir ein Raum nicht wirklich helfen sondern der Mensch, der ihn nutzte...

Wir saßen da. Wieder sollte ich einen Platz wählen. Wieder hatte ich den Eindruck, dass diese Wahl bewertet werden könnte. Vollkommen abstrus fühlten sich diese Gedanken an und daher versuchte ich sie so schnell wie möglich möglichst weit von mir weg zu schieben. Ich war bemüht, die Fragen der beiden so konkret, offen und sinnhaft zu beantworten. Es gelang mir nicht annähernd. Meine eigenen Erwartungen verfehlte ich wieder einmal zunehmend. So gestaltete sich aus meiner Sicht auch der weitere Verlauf. Doch die beiden hatten scheinbar einen anderen Eindruck. Sie wirkten optimistisch. Offen. Ehrlich interessiert. Von dieser Haltung ließ ich mich ein wenig anstecken. Es fiel mir zunehmend leichter. Leichter die wichtigen Themen zumindest als Schlagworte zu definieren. Doch ich war mir nicht sicher, ob es wirklich die wichtigen Themen waren, die ich benannte. Benennen konnte... Aber ich war mir sicher, dass ich mit ihrer Hilfe die wirklichen Problembereiche meines Lebens ergründen kann...

Eine weitere Führung durch die Villa fiel aus. Verständlich. Hatte sich doch innerhalb der wenigen Wochen nicht wirklich etwas verändert. Nur die Gesichter der Patient*innen eben. Meine Bezugsschwester lieferte mich daher nach dem Gespräch direkt im Gruppenraum ab. Ich fühlte mich ausgeliefert. Ausgeliefert gegenüber der Situation und der mir doch unbekannten Menschen. Hatte ich doch mit dem Großteil der Gruppenmitglieder bisher noch kein einziges Wort gewechselt. Weder heute noch in der ersten Woche. Und wieder sollte ich mir einen Platz auswählen...

Die Atmosphäre war kühl. Die Menschen schienen abweisende eingestellt zu sein. Bedeutsames Schweigen hing im Raum. Die Tür öffnete sich und die junge Mitpatientin mit den grünen Haare kam herein. In diesem Augenblick steigerte sich mein Unbehagen ins Unermessliche. Ausgerechnet diese Person. Eine Person, welche mir mit ihrer einnehmenden, forschen Art bereits in meinem ersten Tageskliniktagen unangenehm aufgefallen war. Ich befürchtete, dass sich das selbe Schauspiel erneut ereignen wird. Dass sie wieder zu allem ungefragt etwas beitragen muss. Dass sie sich nach aller Kunst in den Mittelpunkt drängen wird. Und meine Befindlichkeiten bestätigten sich innerhalb von Sekunden. Innerhalb von Sekundenbruchteilen überkam mich eine innere Anspannung. Eine überbordende Anspannung. Ich zitterte. Der Tisch zitterte. Der Raum zitterte. Es war unerträglich. Mein Fluchtreflex setzte ein. Jede bemühende Gedanke, mich abzulenken, schlug fehl. Die Sekunden zogen sich in Zeitlupe dahin. Aushalten – einfach nur ertragen. Konzentration. Atmen. Das Zittern wurde immer stärker. Ich konnte nicht mehr einschätzen, ob es mein inneres Zittern war oder ob der Raum tatsächlich bebte. Ein Blick in die Runde zeigte mehrere zappelnde Menschen. Diese nervösen Bewegungen übertrugen sich durch das alte Gemäuer. Doch diese Erkenntnis erleichterte mir die Situation überhaupt nicht. Mein Unbehagen wuchs immer stärker an. Es gab kein Aushalten mehr. Da ich niemanden anschreien wollte, anschreien konnte, anschreien durfte, blieb nur noch die Flucht. Wortlos stürmte ich aus dem Raum. Suchte Ruhe. Eine sicheren Ort. Meinen Ort – meine mentale Insel...

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