Der Morgen beginnt etwas schleppend. Er fühlt sich jedoch nicht unangenehm an. Gestern konnte ich wieder ein wenig schreiben. Der Nebel im Kopf hatte sich ein wenig gelichtet. Der Weg war zwar noch nicht frei, aber ich konnte die Richtung sehen.
Ich war erstaunt, dass ich unbewusst die komplette Flasche Wasser geleert hatte. Geleert ohne nachzudenken. Geleert ohne Zwang – einfach so...
An der Klinik angekommen war noch einer der wenigen Parkplätze frei. Ich nutzte die Gelegenheit. Kurz darauf kam eine weitere Patientin mit ihrem Wagen um die Hausecke gesaust. Ein wenig konnte ich ihre Enttäuschung spüren. Doch ich konnte es nicht mehr ändern und schließlich hatte sie ja auch noch einen Stellplatz ergattert.
Wir trafen uns in der Küche in der zweiten Etage wieder. Es war erst kurz nach halb neun und ich hatte heute viel eher als sonst den Weg auf mich genommen. Daher war ich viel eher in der Klinik. Meine Bezugsschwester meinte zu Beginn, dass mir dies einen entspannteren Tagesstart ermöglichen würde. So wirklich fühlte es sich nicht danach an. Eher ein wenig verloren. Doch auch nicht schlimm. Meine positiven Emotionen eroberten sich irgendwie die Obermacht.
Die Morgenrunde begann. Im Raum waren wir nur zu viert. Ein junger Mann, der irgendwie immer zappelig in Bewegung sein musste, die ältere Mitpatientin mit dem angenehmen Dialekt, welche heute in diese Gruppe gewechselt ist, ich und die Psychologin, deren Namen ich immer noch nicht kannte. Eine entspannte Situation für den Morgen. Eine Situation, die mir entgegen der letzten Tage nicht die Worte im Hals stecken lassen wollte. Doch plötzlich schaute mich Frau Unbekannt ein wenig verunsichert an. Sie fragte, ob ich denn nicht in der Schematherapiegruppe sei. Ich? Nein. Aber ich hätte doch eine Einladung bekommen. Nein, hatte ich nicht. Das wäre mir auch viel zu schnell. Nur weil ich mich zu diesem Thema belesen hatte... Ich fragte mich wie die Einteilung zu den Therapiegruppen und -einheiten zustande kommt. Ein wenig verwirrend. Die einen wollen gern und können nicht und die anderen – wie ich – werden einfach schon wieder von jetzt auf gleich damit überrumpelt... Frau Unbekannt war irritiert aber akzeptierte meine wortlose Verunsicherung. Wir schienen uns auf den Umstand der fehlenden Einladung zu der Therapieeinheit geeinigt zu haben. Doch plötzlich ging die Tür zum Gruppenraum auf. Die Patientin, die immer mal wieder mit der selben Straßenbahn fuhr, stand da und meinte, dass ich doch zu der Gruppenstunde ins Erdgeschoss kommen solle. Sie sei von Professor Unaussprechlich geschickt worden. Wir schauten uns verschreckt an. Die Patientin, die Psychologin und ich... Die Patientin, weil sie nur Bote der Nachricht war und ich, weil ich dafür überhaupt noch nicht bereit war. Schon gar nicht innerhalb von Sekunden. Mein Bedürfnis nach Orientierung war vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten und meine gerade neu gewonnene, emotionale positive Sicherheit verschwand. Verschwand innerhalb dieses kleinen Augenblickes... Die Patientin ging. Frau Ungekannt und auch mein Unbehagen blieb. Es betrübte mich, wie schnell mich doch solch ein kleiner Umstand aus dem Tritt bringen kann. Ich fühlte mich wieder ziemlich unzulänglich.
Die Morgenrunde war dennoch sehr entspannt. Ich hatte das Gefühl, dass ich endlich einmal ohne Einschränkung, ohne Bewertung sprechen konnte. Ein Eindruck, den ich in den letzten Tagen nicht hatte. Es war auch das erste Mal, dass ich mich in diesem Raum ein wenig angekommen fühlte. Ich konnte meine Überrumpelung von eben ansprechen und auch das daraus entstandene Gefühl. Konnte mitteilen, dass sich meine Emotionen um 180 Grad gedreht hatten und das ich befürchtete, dass sich das gute Gefühl vom Morgen nicht wieder einstellen könnte. Ich konnte aber auch aus freiem Herzen meinen Gefallen über die neue Mitpatientin kundtun. Die Morgenrunde endete...
Bevor es im Tagesplan weiter ging saßen wir allein im Gruppenraum. Der zappelige Patient und ich. Warum er so oft nicht stillsitzen könne, wollte ich wissen. Ein kleines Gespräch entstand. Ein Gespräch, dass mir seine Zappeligkeit ein wenig näher brachte und sie vielleicht auch ein wenig erträglicher machte...
Der Tagesplan deutete heute auf recht wenig Aufregung. Ergotherapie, Selbstbeobachtung, Gruppenbesprechung und „Reinigung“ - alles eigentlich ohne viel therapeutischen Aufwand. Wieder ein Tag, den es auszuhalten hieß. Ein Tag, der Gedanken zulassen würde. Doch dieses Mal fürchtete ich mich nicht davor. Schließlich hatte ich beschlossen weiter an meinem Blog-Beiträgen zu schreiben. Mir weiterhin die Gedankenkreise aus dem Kopf zu schreiben. Für mich. Für später. Dieser Entschluss fühlte sich gut an...
Im Ergoraum saßen bereits einige Menschen. Menschen, die in ihre Tätigkeiten vertieft waren. Hier und da ein kleiner Gesprächsfetzen aber grundsätzlich herrschte geschäftige Ruhe. Der erste Platz, den ich wählte, fühlte sich nicht gut an. Zu viele Menschen, die mit am Tisch saßen. Also ging ich zum nächsten Tisch. Das Nebenzimmer, welches sonst ebenso für die Ergotherapie zur Verfügung steht, war durch die Schematherapiegruppe belegt. Doch auch dieser Platz fühlte sich nicht richtig an. Eine unangenehme Unruhe überkam mich. Ob es eine innere Unruhe oder etwas von außen bestimmtes war, konnte ich gar nicht recht einschätzen. Unruhe. Unangenehme Unruhe... Ich wechselte also wieder den Platz und setzte mich an den letzten noch zur Verfügung stehenden Tisch. Auf dem Tisch stand noch ein Stuhl. Es war bereits kurz vor 10 Uhr und trotzdem hatte dieser Stuhl noch keinen Weg zurück zum Boden gefunden. Doch es war mir egal.
Ich schrieb. Zuerst etwas unsicher, doch zu nehmend wurde es besser. Vielleicht war es auch einfach nicht die richtige Situation – der richtige Tag - mit dem ich zu schreiben begann. Nach einem Wechsel ins Hier und Jetzt flossen die Sätze schließlich einfach aus mir heraus...
Wir standen nach der Therapieeinheit im Hof der Tagesklinik. Rauchen oder einfach nur die Kühle des Tages genießen. Jeder nach eigenem Bedürfnis. Und wir kamen in unserer kleinen Runde so ins Reden. Redeten über den Morgen und auch ein wenig über Befindlichkeiten zu Mitmenschen. Mitmenschen, die einem bewusst oder unbewusst das Leben erschweren. Erschweren durch ihre persönliche Art. Teilweise durch ihr bloße Anwesenheit. Ja auch ich habe solche Menschen. Und ja – leider ist eine ganz bestimmte Person, auf die dies zutrifft in der Therapiegruppe. Ausgerechnet genau in der Gruppe, zu der ich zugeteilt wurde. Und ja, vielleicht machte mir das auch die letzten Tage so schwer. Machte mir die Vorstellung zur Schemaeinheit von heute morgen so unvorstellbar. Raubte mir der Gedanke in den letzten Tage einfach so viel von der wenigen Kraft, die ich noch zur Verfügung hatte... Wollte ich doch nicht mit dieser Person im selben Raum sein. Ihre Art – immer im Mittelpunkt stehen, zu jedem etwas zu sagen zu haben... Einfach unerträglich... Wie zwei Magnete, die sich abstoßen, kam es mir vor... Und dieser Magnetismus setzte sich fort – heute wie schon seit Tagen.... Kaum betrat sie den Raum, hatte ich nur noch das Verlangen nach Flucht... Doch laut ihrer eigenen Aussage in der gestrigen Abschlussrunde hat diese Situation scheinbar bald ein Ende, denn sie verlässt in der nächsten Woche die Tagesklinik...
Selbstbeobachtung stand nun auf dem Plan – keine Ahnung, was das zu bedeuten hätte. Am Morgen erklärte mir ein Mitpatient kurz, dass es hierbei eine Reflexion im Sinne der Nachschau zu der Schematherapieeinheit am morgen ginge. Er meinte aber auch, dass man es als Freizeit bezeichnen könne... Freizeit... Gedankenzeit... Zeit, die ich an sich nicht haben wollte... Aber auch Zeit die ich zum Schreiben nutzen konnte. Ich suchte mir also einen Platz in einem der Räume in der ersten Etage. Hier war es heller, freundlicher. Die beiden, die dazu kamen, schrieben auch. Schrieben an ihren Klinikfragebögen. Wir formulierten also gemeinsam – schweigend, jede für sich, was uns in den Sinn kam... Nur hier und da durchdrang ein Trommelrhythmus aus dem Untergeschoss die Ruhe des Raumes.
Das Schreiben tat gut. Es war aber auch belastend. Gleichzeitig trotzdem befreiend. Ich schrieb mir den heutigen Tag aus dem Kopf und auch das letzte Wochenende von der Seele. Unter anderem die Situationen mit der Autobahn und dem Pflegeheim. Das, was mir so schwer fiel auszusprechen. Gefühle. Gedanken. Emotionen. Emotionen, die ich in den Gesprächen mit meinen beiden Bezugspersonen hier in der Klinik kaum aussprechen, gar kaum aushalten konnte. Die ich versuchte lieber schweigend – in deren Augen vielleicht auch ein wenig bockig – selbst mit mir auszumachen. Aus Angst, aus Befürchtung vor dem, was sich bei hemmungsloser Ehrlichkeit daran hätte anschließen können. Doch ich konnte es gestern zum Glück ansprechen oder besser gesagt aussprechen. Und trotz meiner Bedenken ist keine der Befürchtungen war geworden... Ich konnte mich entscheiden und die Entscheidung fühlte sich noch immer gut an...
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