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Oh du besinnliche... Klinikweihnacht

Nach der Gastroskopie konnte ich die Schmerzen im Magen einschätzen. Körperlich nicht wirklich gefährlich – zumindest nicht mit der richtigen Handhabung und Reaktion. Aber auch nicht rein vom Kopf gesteuert.

Nach der Wiedergewöhnungszeit mit Glattsuppe á la Klinikum gab es nun schon seit ein paar Tagen wieder normale Kost. Was angesichts des Datum im Kalender wohl auch mehr als angebracht war. Weihnachten in der Klinik ist an sich schon nicht erstrebenswert, aber dann noch mit Glattsuppe – nein danke... Mein Wille nach einer möglichst umfassenden Normalität hatte gesiegt. Das bedeutete jedoch nicht, dass alles von jetzt auf gleich wieder gut war – nein es bedeutete einfach nur, dass ich mich in die richtige – die gesunde – Richtung bewegte.

Doch so wirklich festlich war es nicht. An Morgen des Heiligen Abends lag ein Schoko-Schneemann auf dem Tablett. Wer mehr erwartete, wurde heillos enttäuscht. Der Schneemann war alles, was diese Tage anders war. Vereinzelt hatte Patient_Innen die Klinik verlassen. Teils ganz, teils nur für eine sogenannte Belastungserprobung. Das bedeutet, dass man eine Nacht in seinem eigentlichen Umfeld verbringen konnte – sollte – durfte – musste... Je nach dem, wie man es definieren will...

Ich hatte mich für Bleiben entschieden. Oder wurde es von der Ärzteschaft so entschieden? Zumindest störte mich diese Entscheidung nicht – ich war sogar eher froh darüber. Die beiden Kalender waren fertig. Ordentlich eingepackt und bereits seit dem letzten Wochenende an Ort und Stelle. Also gab es gefühlt keinen ersichtlichen Grund mich aus der Klinik zu begeben. Das Weihnachtsfest wurde sowieso schon seit einigen Jahren nicht mehr zu etwas Besonderem gemacht. Es waren Tage wie alle anderen, an denen ich nicht ins Büro musste. Einzig die ganze Dekoration - in der Wohnung, im Haus, im Garten – gab der Zeit ein Stück Besonderheit. Und die TV-Ausstrahlungen von „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“... Doch auch dazu stand mir hier in der Klinik nicht der Sinn. War es die Depression, die mich davon abhielt oder doch eher der Schutz des letzten kleinen Fünkchens „Heile Weihnachtswelt“, die es irgendwie zu schützen galt...

Diejenigen Patient_Innen, welche ebenfalls geblieben waren – weil sie mussten oder wollten, machten es sich in den jeweiligen Zimmern oder im Gemeinschaftsbereich der Station best möglichst gemütlich. Bücher wurden gelesen, Spiele gespielt oder es wurde sich über Alles und Nichts unterhalten. Selbst letzte Besorgungen galt es noch in der Stadt zu tätigen.

Aber es lagen auch Vorfreude in der Luft. Eine Patientin vom anderen Ende des Flures konnte es kaum noch erwarten. Sie freute sich auf die Bescherung und ihre Geschenke. Ihre Verwandtschaft hatte ihr diese in die Klinik gesandt. Ein Besuch schien auf Grund der Entfernung nicht möglich zu sein. Ob dies der Wahrheit entsprach bleibt wohl für immer eine unbeantwortete Frage.

Sie hat sich ihre kindliche Naivität behalten können. Manchmal wirkte sie aber für ihr Alter auch etwas zu naiv. Und schien trotz ihres jungen Alters aber auch schon einen ziemlich großen Packen an Problemen mit sich zu tragen. Das eine wird wohl auch das andere ein Stück weit beeinflussen.

Seit einigen Tagen schleppte sie eine Erkältung mit sich herum. Ich hoffte nur, dass sie diese nicht auf der ganzen Station verbreiten würde. In meinen Augen hätte man – also das medizinische Personal – das Mädchen in den vergangenen Tagen schon lange ins Bett stecken müssen. Ein gesunder Erwachsener hätte dies wohl von selbst getan. Aber die junge Frau war nicht in der Lage eine solche gesunde Entscheidung treffen zu können. Das Personal – ob Pflegekraft oder Ärzteschaft – hätten diese Entscheidung für sie treffen müssen. Aber es tat keiner. Und auf uns hörte sie nicht. Sie war zu euphorisch. Sie wollte unbedingt zum Krippenspiel in die Kirche und tat dies gefühlt minütlich kund. Zwischenzeitlich konnte sie auch eine ältere Mitpatientin dazu überreden, sie zu begleiten.

Doch wie nah Vorfreude und dramatische Verzweiflung bei einander liegen können, zeigte sich innerhalb weniger Minuten – gar innerhalb weniger Sekunden. Einer der diensthabenden Pfleger teilte ihr freundlich – aber bestimmend mit, dass entschieden wurde, dass sie aus gesundheitlichen Gründen die Klinik nicht mehr allein verlassen dürfe. Er erklärte ihr, dass sie für jeden Schritt außerhalb des Geländes jetzt einer Begleitung bedürfe. Diese Begleitung jedoch kein_e andere_r Patient_in sein könne. Nach wenigen Augenblicken der Schockstarre wandelte sich die bis dahin überbordende Vorfreude in pure Verzweiflung. In ihrem Inneren schien sich eine schier unbändige Wut den Weg zu suchen. Doch diese Wut drang nicht nach außen. Die verzweifelte Wut stockte viel mehr in ihr. Selbst eine Artikulation der Gedanken war ihr kaum möglich. Sie lief den Gang auf und ab. Sie nahm uns damit schier die Ruhe. Wir konnte sie ein Stück weit verstehen – doch helfen konnte wir ihr in dieser Situation nicht. Helfen hätten hier wohl nur die Pflegekräfte oder die Ärzte gekonnt. Doch was wäre der richtige Weg gewesen? Sich intensiv kümmern und das Mädchen beruhigen. Hätte dieses Kümmern vielleicht genau das Gegenteil bewirkt und sie in ihrem Zustand gehalten und diesen damit bestätigt oder gar verschlimmert?

Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte ich im Augenwinkel wahrnehmen wie die Ärztin noch einmal mit der jungen Frau sprach. Und so schnell wie die Dramatik über uns herein brach, so schnell war sie auch wieder verschwunden. Vielleicht gibt es ja doch das ein oder andere große oder kleinere Weihnachtswunder. Eines hatte jedenfalls gefühlt gerade die Situation gerettet. Die junge Mitpatientin kam strahlend zu uns zurück und teilte glücklich mit, dass sie nun doch zum Krippenspiel gehen dürfe. Selbst die Begleitung durch die ältere Patientin wurde von der Ärztin als Ausnahme deklariert. Es schien alles wieder in ruhigen Bahnen verlaufen zu können. Weit gefehlt... In den nächsten Minuten und Stunden wurden wir wieder – auch wenn wir es nicht wollten und dies auch behutsam versuchten zu verdeutlichen – mit Vorfreude auf die Geschenke und den Kirchenbesuch gequält. Wenn ich diese Dinge mantra-artig, sich ständig wiederholend vorgetragen bekomme, kann ich schon einmal von Qual sprechen. Ich wollte nur meine Ruhe und mich auf mein Nichtstun konzentrieren. Doch die Zeit schlich... Und je mehr ich versuchte die junge Frau zu ignorieren, desto mehr wandte sie sich einer anderen Patientin, welche in unserer Runde saß und eigentlich ihr Buch lesen wollte, zu.

Endlich war der Zeitpunkt gekommen und die beiden Kirchgängerinnen sollten sich in Richtung Gotteshaus auf den Weg machen. Doch das nächstes kleine Drama deutete sich an. Es hatte nämlich begonnen zu regnen. Und bei Nässe wollte die Ältere eigentlich nicht gehen. Geschweige denn mit feuchten Sachen in der kalten Kirche sitzen. Ich ahnte Schlimmes. Schnell holte ich einen Schirm aus dem Zimmer und konnte die Situation somit retten. Sie machten sich auf den Weg und unsere kleine Lese- und Nichtstun-Runde hatte zumindest für die nächsten 2 Stunden etwas Ruhe. Eine angenehme Ruhe...

Als die beiden zurück kamen wurde es bereits Zeit für das Abendessen. Eines der markanten Punkte im Klinikalltag. Anschließend wurden die Geschenke präsentiert und mit einer sehr ausgedehnten Spanne zwischen überglücklicher Zufriedenheit und endloser Enttäuschung das Krippenspiel ausgewertet... Diese extreme Ambivalenz macht mich einfach kirre...

Der erste Weihnachtstag war durch noch mehr Nichtstun definiert. Ich war selbst zu bequem um meine tägliche Spazierrunde in Angriff zu nehmen. Ich tat also nichts – absolut gar nichts – und das tat gut...

Am zweiten Weihnachtstag kehrten die meisten dann am Abend aus ihren Belastungserprobungen zurück. Meine Spazierrunden im Klinikgelände liefen sich im wahrsten Sinne des Worte recht geschmeidig. Ohne großes Nachdenken immer im Kreis... Einfach keine Gedanken. Einfach einen Schritt nach dem anderen... Einfach Laufen...

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