Donnerstag – Schematherapie-Tag. Am heutigen Morgen sollte nun endlich die Theorie ins Erleben transferiert werden. In der Theorie hatte ich mich schon viel damit beschäftigt. Hatte Bücher und Internetbeiträge gelesen. Hatte die Unterlagen, welche es nach den montäglichen Psychoedukationsstunden vom Haus gab, intensiv studiert. Konnte ich mir daher doch einige Thesen herleiten. Doch wirklich auf mich beziehen – nein, das war nicht möglich. Konnte ich mir doch die Annahme der diversen Modi in Bezug auf mich selbst bisher nicht erlauben. Konnte die Punkte zwar in Gedanken formulieren, aber diese Überlegungen aber nicht aussprechen. Waren die Feststellungen doch immer noch oder gerade jetzt viel zu schmerzhaft... Wieder einmal stellte ich fest, dass ich in der Theorie gut war. Scheinbar nur in der Theorie – so wie in so vielen Dingen im Leben...
Heute war es nun soweit. Die Schemagruppe stand auf dem Tagesplan. Ich war verunsichert, was mir diese Gruppe bringen sollte. Ja ich hatte ein unendliches Unbehagen in der Magengegend. In der gestrigen Abschlussrunde hatte ich meine Bedenken geäußert. Hatte meine Furcht formuliert. Hatte mir erlaubt meine Unsicherheit gegenüber der Gruppe auszusprechen... Hatte die Erläuterungen, derer, die bereits an dieser Gruppentherapie teilgenommen hatten, gehört. Hatte versucht die Aussagen zu verstehen – zu verinnerlichen, konnte das Gehörte aber dennoch nicht fühlen. Trotz liebevoll vorgetragenen, sachlichen Erklärungen stellte sich keine Erleichterung bei mir ein. Angespannt ging ich am Vortag nach Hause...
Die Nacht war unruhig. Gefühlt hatte ich kaum eine Stunde geschlafen. Zumindest war der Schlaf nicht erholsam. Bereits mehrere Stunden vor meinem Weckerklingeln war ich wach. Saß hilflos im Bett und konnte mich nicht beruhigen. Gedanken kreisten wie wild in meinem Kopf. Die unmöglichsten Abläufe kreierten sich. Abläufe, die ich nicht kannte. Abläufe, deren Wirklichkeit ich überhaupt nicht einschätzen konnte. Abläufe, die sich mein Hirn auf Grundlage der gestrigen Abschlussrunde zu recht spann... Ich überlegte, erneut zu flüchten. Doch wohin hätte ich fliehen sollen? Mich ins Auto setzen und ziellos dahin fahren? Nach irgendwo ins Nirgendwo? Dieser Plan hätte wohl nach einigen Stunden nur mehr Probleme hervor gerufen... Hätte es vielleicht einen behördlichen Wahnsinn nach sich gezogen... Meine Vernunft stoppte diese Überlegung... Doch auch in körperliche Symptome fliehen wäre keine Lösung gewesen. Hätte dies doch ebenfalls nur ein Verschieben auf unbestimmte Zeit bedeutet... Ein Verschieben, was ich doch nicht mehr wollte. Wollte ich doch endlich ein zufriedener Mensch werden...
So stand ich auf, zog mich an und fuhr zu meinem Treffen. Vorsichtshalber hatte ich mich mit einer Mitpatientin zum Frühstück verabredet. Hatte mich durch diese Zusammenkunft selbst ausgetrickst und war froh, dass sie mir damit so unendlich half. Mich vor meiner eigenen Fluchtabsicht schützte. Bedeutet dieses Treffen doch eine Änderung in ihrem morgendlichen Ritual...
Orientierungslos betrat ich den Raum in dem in den nächsten zwei Stunden die Therapieeinheit stattfinden sollte. Die Stühle waren im Kreis angeordnet. Im Regal war eine kleine Kamera, mit Blick in Richtung Ausgang, aufgestellt. Die Glastür zum Nebenraum war mit einem Sichtschutz abgehangen. Auf jedem der Stühle lag ein DIN-A4-Seite. Ein wenig benebelt wählte ich mir resigniert einen Platz gegenüber der Tür. Wusste ich doch nicht, was die Kamera zu bedeuten hätte. Ich wusste nur, dass ich der Bildachse meiden wollte...
Nach und nach kamen die Teilnehmenden in den Raum. Professor Unaussprechlich glich seine Liste mit den Namen ab. Dann begann die Sitzung. Zu Anfang gab er einige Hinweise. Er erläuterte den Ablauf und nahm Bezug auf die Kamera. Erklärte den Sinn und Zweck diese Mediums. Kraftlos versuchte ich seinen Worten zu folgen. Von der Situation erschöpft legte ich alle Konzentration darauf, meinen Fluchttrieb zu unterbinden. Doch die Gedankenkreise triumphierten.
Gemeinsam suchten die anderen gemeinsam mit dem Professor nach dem Thema der nächsten Stunde. Ohnmächtig ließ ich die Minuten über mich ergehen. War durch Nachfragen, durch Aufforderungen, meine Gedanken mit den anderen zu teilen, völlig überfordert. Und jede Ansprache verschlimmerte mein Gefühl. Ein Gefühl absolut störend zu sein. Wollte ich doch eigentlich nur unsichtbar im Boden versinken. In dem Boden, der sich so unsicher, so wankend, anfühlte. Ich zitterte am ganzen Leib. Doch dieses Zittern war scheinbar nur innerlich. Dennoch war es unerträglich. So unerträglich, dass ich nur noch nach draußen wollte. Meine körperliche Wahrnehmung mit der Realität abgleichen wollte. Doch die Augenblicke schlichen. Skeptisch folgte ich den unterschiedlichen Beiträgen. Aussagen, die mir anfänglich teils so nah waren. Die mir teilweise so unendlich aus der Seele sprachen.
Die Sprache kam im weiteren Verlauf auf eine Begebenheit, die fast alle in den letzten Tagen miterlebt hatten. Nacheinander gaben sie ihre Eindrücke preis. Nur ich konnte nicht. Konnte meine Gedanken nicht kommunizieren. Plötzlich ließ eine Mitpatientin ihren Gedanken freien Lauf. Beschrieb die Situation, wie sie wahrgenommen hatte. Aus ihren Worten schwang Enttäuschung mit und auch ein wenig Wut. Eine Wahrnehmung, die ich befürchtet hatte. Hatte ich doch den Eindruck, dass das, was geschehen war in mir seine Begründung gefunden hatte. Dass ich die anderen unabsichtlich zu ihrem Verhalten animiert hatte. Dass ich Schuld war... Hatte ich mich doch gerade dazu überzeugt, den anderen meine Intension mitzuteilen, so war ich nun wieder wie erstarrt und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Fast lethargisch hoffe ich nur noch auf die Unterbrechung der Sitzung. Wartete darauf, mich dem Ganzen entziehen zu können. Zu flüchten, ohne das es allzu sehr nach Flucht ausschauen würde...
Es kostete mich unendlich viel Kraft und Konzentration mich nach der Pause wieder in den Raum zu begeben. Hatte mir die kühle Luft, die mich vor der Villa umgab, doch ein wenig das Gefühl für das Hier und Jetzt zurück gegeben. Doch nun saß ich wieder da. Versuchte dem Geschehen zu folgen und fühlte mich trotzdem absolut überfordert. Überfordert damit, dass Einwürfe innerhalb von wenigen Wimpernschläge ins Gegenteil verkehrt wurden. Hatte doch eine Patientin ihren persönlichen Eindruck, ihre Befürchtungen kund getan und wie im Handumdrehen wurde dem von einem anderen Patienten widersprochen. Nicht böswillig – nein eher zugewandt, aber es hinderte mich noch mehr, mich einzubringen. Hatte ich doch schon immer das Gefühl, dass ich mit meiner Meinung nicht richtig sei. Dass meine Emotionen vollkommen entgegengesetzt zur Allgemeinheit verlaufen. Dass alles was ich denke und fühle falsch ist... Durch das, was gerade geschehen war, blockierte ich nur umso mehr... Ich fühlte mich so fehl am Platz... Mein Blickfeld verengte sich immer mehr und mit der Zeit konnte ich nur noch einen klitzekleinen Ausschnitt in mitten des Stuhlkreises wahrnehmen. Der Raum und die Menschen um mich herum verschwammen und die Geräusche ebbten zunehmend ab. Alles wurde dumpf. Die Leere im Kopf war unendlich. Fremd und doch so angenehm tröstlich. Eine innere Ruhe überkam mich. Doch leider hielt dieser Zustand nicht lange an. Eine harsche Aufforderung des Professors holte mich aus meinem Kokon zurück...
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