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So erzieht man seinen Tyrannen

So langsam gingen mir die finanziellen Barreserven aus. Meine neue Bankkarte wurde immer noch nicht zugestellt. Jedoch lag heute das Informationsschreiben mit der neuer PIN-Nummer im Briefkasten. Es kann also hoffentlich nicht mehr all zu lange dauern. Sonst muss ich mir gehörig etwas einfallen lassen... Oder doch einfach in der Filiale vorbei schauen und mir ein Bündel Bargeld auszahlen lassen...

Bevor ich in meinen Briefkasten schauen konnte, stand noch einmal eine Ergo-Einheit der anderen Art auf dem Programm. Es regnete leicht. Eigentlich nieselte es nur. Doch für einen ausgedehnten Spaziergang war es nicht das richtige Wetter. Ja es gibt kein falsches Wetter, nur unangepasste Bekleidung. Diese schienen wir alle jedoch nicht in unseren Klinikköfferchen zu haben.


Die Halle, die die Fauna der Tropen beheimatet, machte heute ihrem Namen alle Ehre. Von oben wurden die Pflanzen mit einem feinen Sprühnebel beregnet – und wir gleich mit. Es entstand dadurch eine mystische Illusion. Ich nahm mein Handy zur Hand und hielt diesen Eindruck in Bildern fest. Hier und da reiften Kakaofrüchte an den Bäumen, an einem Strauch leuchteten Orangen und auch Bananenpflanzen hatten Blüten angesetzt. Und auf dem kleinen künstlichen Gewässer strahlte einsam eine zarte Seerose vor sich hin. Wären nicht überall die kleinen Schilder mit den Beschreibungen zu sehen, könnte man sich fast in ferne Urlaubswelten träumen.



Zu diesem Traum passte vor allem das Gewächs mit den Blüten, welche wie Kinderschokobons aussahen. Ich war wieder einmal vollkommen fasziniert davon, wie mir winzige Dinge ein Strahlen in die Seele bringen können.



Im Anschluss ging ich gemeinsam mit der rothaarigen Vielleserin in die städtische Bibliothek. Heute hatte sie geöffnet – endlich... Wir betraten die Räume. War ich doch schon ewig nicht mehr hier gewesen. Eine eigene, ganz spezielle Aura erfüllte die Gänge und Säle mit den vielen Büchern und anderen Medien, welche zur Ausleihe bereit standen. Ich orientierte mich. Im Internet hatte ich mir bereits ein paar interessante Titel ausgewählt. Diese musste ich nun nur noch in den Regalen finden. Gar nicht so einfach. Nach einer geraumen Weile hatte ich das System wieder verstanden. Es ist auch eigentlich nicht schwierig. Zuerst in das richtige Stockwerk gehen, den entsprechenden Raum nach Thema aufsuchen und danach das Regal mit dem Themenbereich „Schicksale“ finden. Klingt doch nicht schwer – war es aber leider trotzdem... In der richtigen Etage war ich ziemlich schnell angekommen. Auch hatte ich innerhalb weniger Augenblicke den entsprechenden Raum gefunden. Jedoch das Regal mit den Büchern zu diesem Thema versteckte sich vor mir. Leider halfen mit auch die angebrachten Buchstaben an den Stirnseiten nicht viel. Ich suchte das Buch von Tobi Katze - „Morgen ist leider auch noch ein Tag“ und ich fand es nicht. Ich schaute bei S wie Schicksale... Nichts... Ich schaute bei K wie Katze... Wiederum nichts... Ich stand verwundert im Raum und hoffte nur inständig, dass mich niemand beobachtete. So ging ich an einen der zur Suche bereit stehenden Computer und schaute noch einmal im Bestandskatalog nach dem Buch. Autor Katze zu finden in der Kategorie „Schicksale“ - doch im Regal gab es in diesem Raum keine Kategorie „Schicksale“. Also noch einmal zurück an den PC. Es könnte ja auch an meinem aktuellen Kurzzeitgedächtnis liegen. Im Ergebnis stand die selbe Verschlagwortung. Ich ging wieder zu den Regalen. Es gab keine Kategorie „Schicksale“. Sollte ich nun doch das Personal bemühen? Sollte ich mich als unfähig kennzeichnen lassen? Ich zweifelte erneut an mir. Das Buch wollte ich trotzdem lesen und deshalb musste ich es finden. Auf der Etage war kein_e Beschäftigte_r der Bibliothek zu sehen. Viele Besucher hatten den Weg nach oben auch nicht gefunden. Somit war ich also allein. Aus diesem Grund beschloss ich mir noch einmal alle Regale von oben bis unten anzusehen. Das Buch musste doch zu finden sein. Mein Ehrgeiz war geweckt und ich ging in die hintere Ecke des Raumes. Die Schlagworte waren nach Alphabet sortiert. OK – daher hätte doch das Schlagwort „Schicksale“ unter dem Buchstaben S stehen – tat es aber nicht... Meine Suche ging weiter. Immer entlang der Buchreihen. Darin waren zu jedem Schlagwort die Autoren fein säuberlich aufgereiht. Was machte ich nur falsch? Also zurück in die Ecke, wo die Schlagworte mit A begannen. Einfach konzentriert die Regale absuchen. Im Katalog war das Buch als ausleihbar gekennzeichnet und musste daher an seinem Ort stehen. Somit ging mein Blick systematisch von oben nach unten über die Etagen der Bücherwände. Und plötzlich blieb ich am Schlagwort „Besondere Schicksale“ hängen. Hier fand ich auch recht schnell den Autor und den entsprechenden Buchtitel. Man sollte sich also nicht immer an die strengen Kategorisierungsbegriffe halten um fündig zu werden. Die Suche nach dem weiteren Buch ging nun viel schneller.

Meine Begleiterin hatte zwischenzeitlich auch einige Titel gefunden und somit verließen wir nach der Verbuchung der Ausleihobjekte gemeinsam die Bibliothek. Sie war so freundlich und nahm meine Titel mit zurück in die Klinik und ich machte mich auf den Weg zu meinem Briefkasten.

Nachdem dieser Weg nicht von Erfolg gekrönt war, beschloss ich mir noch eine Kleinigkeit im nahe gelegenen Supermarkt zu kaufen. Nichts Großes. Ich ging daher zielstrebig zum Regal und anschließend zur Kasse. Bereits auf dem Weg dahin fiel mir eine Familie auf. Ein kleiner Junge saß quengelnd in der Vorrichtung im Einkaufswagen. Er wollte unbedingt eine Wurst aus dem Kühlregal. Die Mutter legte das begehrte Objekt unerreichbar für ihn in den Einkaufswagen. Wie er sich drehte, er kam einfach nicht heran und begann lauthals zu schreien. Die Mutter redete auf den Jungen ein. Sie sprach in einem Wortschatz, den ein scheinbar 3jähriger nicht erfassen kann, mit ihm. Der Vater hingegen, ging unbeeindruckt schweigend nebenher. Sie versuchte die Aufmerksamkeit des Kindes durch ständiges Wiederholen des Vornamens zu erlangen. Dies führte jedoch nicht zum Ziel sondern erweckte ausschließlich das Interesse der mittlerweile ein wenig genervten Kundschaft. Das ganze Schauspiel setzte sich durch den gesamten Einkaufsmarkt fort und fand seinen Höhepunkt an der Kasse. Der Junge schrie und quengelte. Die Mutter redete leer auf ihn ein. Anstatt ihm die Situation kind- und altersgerecht zu erklären, wiederholte sie ständig und immer wieder seinen Namen. Die Kassiererin war zwischenzeitlich auch sichtbar am Rand ihres Verständnisses angelangt. Warum war es den Eltern nicht möglich, ihrem Kind eine Grenze aufzuzeigen – erst bezahlen, dann essen. Entnervt erlaubte sie der Mutter ein Würstchen vor dem Bezahlen aus der Packung zu nehmen und es ihrem Sohn zu geben. Den Anflug einer Diskussion seitens der Mutter unterband sie mit einem strengen Blick. Das kleine Tyrann war endlich ruhig und verspeiste genüsslich seine Wurst. Dabei grinste er triumphierend über das ganze Gesicht. Was es aus meiner Sicht damit scheinbar wieder gelernt hatte – Regeln gibt es nicht und man wird belohnt, wenn man nur laut genug brüllt und anderen auf die Nerven fällt...

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