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Sprachfehler

Die letzten Tage in der Klinik sind abgebrochen. Die letzten Ergo-Einheiten hier im Hause. Ich setzte mich langsam selbst unter Druck. Das Projekt Speckstein liegt in den letzten Zügen und trotzdem habe ich Bedenken, dass ich nicht rechtzeitig fertig werde. Ein komisches und überflüssiges Gefühl. Als ob es eine Katastrophe gewesen wäre, wenn ich es nicht geschafft hätte. Doch dieses Gefühl steckt tief in mir. Es lässt sich nicht einfach weg schieben. Es ist da. Es war da. Schon immer und scheinbar wird es auch noch ewig so weiter da sein... Doch ich kann eigentlich ganz beruhigt sein. Nichts und niemand drängt mich – außer mein eigener Anspruch – mein eigener Drang nach Perfektionismus...

Das Herz für die Fototasche ist fertig. Also fast fertig. Die letzten Feinarbeiten müssen noch gemacht werden. Speckstein müsse noch poliert werden, so hat die Therapeutin erklärt. Poliert – ich stelle mir darunter wohl möglich wieder viel zu viel vor... Und so ist es im Endeffekt auch. Erst mit grobem Schleifpapier und danach mit einem feineren. Mit ein wenig warmen Wasser, damit sich die Patina einschleichen kann. Und zum Schluss muss das Werkstück aus Speckstein noch mit einer leichten Emulsion behandelt werden. Doch bevor ich dies tun will, kam mir eine Idee. Ich könne eine kleine Öse anbringen, damit ich das Specksteinherz mittels einer dünnen Sehne für Fotos in Position bringen könnte. Gesagt – getan...

Ich hatte mich bereits von Station abgemeldet. Mich brav in der Ausgangsliste ausgetragen. Ab und an fragte ich mich, ob diese Liste überhaupt einen wirklichen Überblick über die Anwesenheit gibt. Aber ab und an habe ich beobachten können, wie das Pflegepersonal einen Blick darauf wirft. Es wir also ein tieferer Sinn dahinter stehen. Und sei es nur den Sinn sich an Regeln zu halten. An Regeln halten, dass kann ich – meistens zumindest... Wenn ich die Regeln verstehe... Ich habe mich also direkt aus der Ergostunde auf den Weg zum Zahnarzt gemacht. War es doch schon seit Ewigkeiten geplant, dass die Wurzelbehandlung endlich durchgeführt wird. Eine Wurzelbehandlung, welche seit Oktober ausstand. Ausstand, weil es nie der richtige Moment war. Erst weil ich im Urlaub war, dann auf Seminar und dann krank zu Hause. Schließlich kam dann noch die Klinik als Hürde dazwischen. Doch nun hatte es endlich geklappt. Geklappt, weil es sein musste. Geklappt, weil es eigentlich keine andere Alternative gibt. Zähne müssen in Ordnung sein, sonst funktioniert der Rest des Körpers nicht. Zähne spiegeln in meiner Wahrnehmung ein Stück der eigenen Wichtigkeit wieder. Zähne sind wichtig für ein freundliches Lächeln... Wer lächelt ist meist nicht feindselig gestimmt... Obwohl ich ehrliches Lächeln für wichtig erachte...

Den ersten Zahnarzttermin hatten mir ja die Ärzte verhagelt – obwohl eigentlich war ich es selbst. Sofern man schlechte Blut- und Nierenwerte als absichtliche Störung im Tagesablauf benennen kann. Jetzt aber findet der Termin statt. Ein Termin mit Wurzelbehandlung. Ich habe ein wenig Bedenken, dass es schmerzhaft werden könnte. Obwohl dieser Gedanke eigentlich nicht beängstigend daher kommt. Ermöglicht mir eine gewisse Portion Schmerz doch eine Beziehung zu mir. Beziehung zu meiner Seele und meinem Körper. Im sogenannten normalen Tagesablauf fehlt mir diese Verbindung.

Ich wandere also in Richtung Bushaltestelle und nehme die nächste Linie, die mich in Richtung Praxis bringt. Die Praxis liegt in der Nähe meines Büros. Ich zweifel gerade ob die Wahl gut war. Was sich in der Vergangenheit – in der Zeit der betäubten Bedürfnisse – als optimal darstellte nahm gerade eine Art eines extrem komischen Gefühles an. Ich schlich mich also an dem Gebäude mit meinen Büro vorbei. Eigentlich fühlte es sich auch nicht mehr nach meinem Büro an. Ich hoffte nur, dass mir kein bekanntes Gesicht über den Weg lief. Mein Wunsch erfüllte sich. Keine*r meiner Kolleg*innen war zu sehen. Ich konnte aufatmen...

Die Helferin am Empfang begrüßte mich fröhlich. Eine unbekümmerte Fröhlichkeit schwang in ihrer Stimme mit. Eine Fröhlichkeit, die ich ihr unbesehen abnehmen konnte. Ich sage ihr dies auch so – sie ist verwundert. Verwundert darüber, dass mir diese Fröhlichkeit gut tut. Diese Fröhlichkeit, die sie selbst am Telefon durch den Hörer schickt. Eine Fröhlichkeit, die für sie scheinbar normal ist. Für mich ist sie es nicht...

Wir überbrücken die Wartezeit mit einem Gespräch über Brillen. Brillen – eine meiner Leidenschaften. Brillen – eine Art von individuellem Ausdruck. Was andere durch Klamotten versuchen, spiegelt sich bei mir in Brillen wieder. Zu jeder Laune und Lage gibt es zwischenzeitlich eine eigene Brille. Manche passen zum Outfit. Manche finde ich einfach nur schön. Aber jede wir entsprechend des Tages gewählt. Wahrscheinlich aus Ermangelung an anderen Möglichkeiten. Wir fachsimpeln also über die Optiker der Stadt. Irgendwann merke ich, dass ich sie in ihrer Arbeit ablenke und träume mich in meine Welt...

Im Behandlungszimmer erwartet mich die junge Zahnärztin. Sie ist ebenso lebensfroh aufgelegt. Ein Erscheinen, dass ich mir für mich selbst wünschen würde. Eine Art, die sich für mich so meilenweit entfernt anfühlt.

Ehe ich mich versehen kann, habe ich die Instrumente im Mund – und eine Spritze. Zum Glück hatte sie nicht gefragt. Zum Glück hat sie einfach gemacht. Mir einfach die Entscheidung abgenommen. Nach wenigen Minuten tritt die Wirkung ein und die Behandlung verläuft ohne große Komplikationen. Einzig das Ausspülen stellt sich etwas schwierig dar. Durch die Betäubung habe ich kein Gefühl mehr und kann den Mund einfach nicht mehr effektiv schließen. Ein befremdliches Gefühl. Ungewohnt. Ohne Kontrolle. Aber auch irgendwie unbeschwert.

Zwischenzeitlich bin ich auf dem Weg zurück zur Klinik. Ich habe mich gegen den Bus und für die kleine Wanderung entschieden. Irgendwie nimmt es sich zeitlich nicht viel. Und selbst wenn – es ist mir egal. Obwohl – egal ist es mir nicht. Ich habe mich bewusst dafür entschieden. Mit allen möglichen Konsequenzen. Hoffentlich spricht mich niemand an. Die Betäubung breitet sich über mein Gesicht aus. Ich hoffe nur, dass mich niemand anspricht. Anspricht und falsche Schlüsse zieht. Falsche Schlüsse auf Grund von verwaschener, undeutlicher Sprache und einer komischen Asymmetrie im Gesicht...

Auf Station wurde mir mein Mittagessen zurück gehalten. Und irgendwie bin ich froh darüber. Ein ganz neues Gefühl....

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