Der Tag begann wie erwartet. Nach der Migräneattacke – oder wie man es auch nennen mag – habe ich bis zum Morgen durch geschlafen. Dennoch wache ich nicht recht erholt auf. Mein Blick auf die Uhr gibt mir noch mindestens 2 Stunden bis zum Weckerklingeln. Zwei Stunden. Ich kuschele mich wieder in meine kuschelig warme Decke ein und fange an mich in einen angenehmen Tag zu träumen... Einen Tag mit Sonne und Wellenrauschen, ohne Menschen, am Strand spazieren gehen. Einem Tag von Weite und wohliger Einsamkeit. Doch dieser Traum platzt als der Wecker klingelt. Es ist kurz vor 8 Uhr. Ich muss aufstehen. Aufstehen, denn sonst wird es für den Weg und das pünktliche Erscheinen zu knapp. Die Trennung von meinem sanften Kokon, der mich vor der Welt schützt, fühlt sich nicht richtig an – aber sie wird erwartet. Schnell die übliche Morgentoilette erledigen. Alle notwendigen Dinge einpacken und dann auf zur Bahn, welche mich in Richtung Tagesklinik bringt. Viel zu spät – so suggeriert mir mein Gefühl. Irgendwas hält mich zurück. Ich zweifle immer noch am Sinn und Zweck des Ganzen. Fühle ich mich doch seit gestern wieder falsch in der Tagesklinik. Ganz zu Schweigen von diesem Gefühl in Bezug auf mein Leben insgesamt. Ich fühle mich einsam und verlassen – nein ich bin gefühlt einsam und verlassen. Und daran kann auch gefühlt auch der Aufenthalt in der Tagesklinik nichts ändern. An diesem Gefühl, nicht in diese Welt zu gehören. Und so werde ich voraussichtlich mit diesem Gefühl sterben. Vielleicht nicht heute - aber irgendwann. Aber warum eigentlich nicht heute...???
An der Haltestelle sehe ich die junge Frau aus der Therapiegruppe wieder. Ich hatte sie schon öfter hier in der Nähe, im Einkaufzentrum, gesehen. Doch ich konnte sie nicht eindeutig in Zusammenhang bringen. Dieser Zusammenhang ist mir erst vorgestern zur Abschlussrunde bewusst geworden. Wir lächeln uns flüchtig zu und steigen doch an dem jeweils anderen Ende in die Bahn. Sie wirkt sympathisch. Vor allem scheint auch sie die Ruhe am Morgen zu genießen. Sofern man hierbei von Genießen sprechen kann. Den letzten Kilometer zur Tagesklinik läuft sie wahrscheinlich und wir kommen in dem Moment, als der Bus an der Haltestelle vor dem Gebäude anhält, fast zeitgleich an. Sie wirkt in sich gekehrt.
Ich zweifele. Doch ich betrete die alte Villa. Nur nicht zögern. Zögern würde die Zweifel nur noch mehr befeuern. Und Zweifel sind nicht gut. Zumindest nicht diese Art von Zweifel. Dieser Typ Zweifel kann alles und jeden zerstören. Bereits auf der ersten Stufe dringt das ganze Stimmengewirr in mein Ohr. Mir wird komisch in der Magengegend. Es sind mir eindeutig zu viele Menschen hier. Und diese Menschen machen mir einfach zu viel Trubel. Der Trubel scheint ihnen gar nicht bewusst zu sein und wahrscheinlich ist es auch kein wirklicher Trubel sondern einfach nur eine normale Geschäftigkeit. So normal wie das Leben eben... Doch mir ist es zu viel. Zu viele Menschen, zu viele Geräusche und vor allem zu viele Erwartungen...
Auf der zweiten Etage angekommen begrüßt mich meine ehemalige Klinikmitpatientin. Ihr neu gesetzter Piercing im Lippenbändchen blitzt mich fröhlich an. Sie nimmt mich herzlich in den Arm. Diese Geste ist sehr angenehm und doch bin ich mir meiner Empfindungen nicht sicher. Ein wenig zu viel und doch gleichzeitig zu wenig. Vielleicht verbiete ich es mir auch einfach nur aus Furcht vor mir selbst. Aus Angst davor, es nicht wieder zu lassen zu können, zu lassen zu dürfen. Mir schießen die Tränen in die Augen. Konzentriert versuche ich diese zu verhindern. Ich atme tief ein. Wir unterhalten uns kurz und sie fragt mich nach meinen Zweifeln. Ich erzähle. Es tut gut und trotzdem fühle ich mich schlecht – unendlich schlecht. Schließlich ist sie selbst nicht zum Spaß – sondern wegen eigener Probleme hier. Und nun hört sie sich noch meine abstrusen Gedanken an. Mir drückt es den Magen zu... Sie gibt mir den Rat ein Gespräch mit jemandem vom Haus zu suchen, doch mein Innerstes sträubt sich. Habe ich doch die Angst vor einer Wiederholung der Dinge...
Da es bereits kurz vor 9 Uhr ist, muss ich zur Morgenrunde. Mir graut vor dem Gruppenraum. Oder eher vor den Menschen. Ich nehme meinen Becher und gehe schleppend in den Speiseraum um mir einen Tee aufzugießen. Es geschieht alles schier in Zeitlupe. Langsamkeit als Flucht in die Vermeidung???
Ich schleiche hinauf zum Gruppenraum. Einige sind bereits auf ihren Plätzen, andere schwirren noch durchs Haus. Ich nehme Platz. Unbehagen. Die Wände kommen scheinbar schier auf mich zu. Der Raum wird immer enger und die Luft ist mir einfach unangenehm. Die Morgenrunde beginnt. Die grünhaarige Patientin eröffnet den Reigen. Sie gibt an, dass sie müde sei. Müde? Dafür erscheint sie mir aber etwas zu aufgedreht. Ich werde immer ruhig wenn ich müde bin. Sie wohl nicht. Ich ertrage es. Den Raum, die Menschen und die Situation. Was bleibt mir auch anderes übrig... Die Runde setzt sich fort, der Boden beginnt zu vibrieren. Oder ist es wieder nur mein innerliches Zittern? Nein! Die Hälfte der Anwesenden ist nicht in der Lage auch nur für wenige Minuten still zu sitzen. Am liebsten würde ich gehen wollen. Es geht mir nicht gut. Es ist mir zu viel. Die Menschen sind mir zu viel. Vor allem die Grüne ist mir zu viel. Sie geht mir mit ihrer Art gehörig auf die Nerven. Immer im Mittelpunkt stehen wollen – nicht nur damals bei meinem ersten Tagesklinikversuch sondern auch jetzt wieder. Vorgestern und heute – scheinbar ständig... Zu allem hat sie – auch ungefragt – was zu sagen, zu jedem Thema muss sie ihren Senf dazu geben. Und Stille, ja Stille scheint sie nicht ertragen zu können. Immer muss sie reden... Reden – oder doch eher Labern in einer unangenehmen Stimmlage, in einer unangenehmen Lautstärke – aber vor allem in einer für mich unerträglichen Art und Weise... Ich will weg! Und das ich weg will, dass sage ich auch so...
Die Morgenrunde hatte endlich ihr Ende gefunden und ich verließ so schnell wie möglich den Raum. Ergotherapie stand auf dem Plan. Daher schlich ich mich ins Erdgeschoss. Werkraum 2 steht auf der Therapieübersicht. Zum Glück ist dieser noch leer. Ich stellte meinen Teebecher auf einen der Plätze und überlege, was ich tun könnte. Malen? Zeichnen? Irgendetwas basteln? Ich komme mir vor wie in einer Zeitschleife. Die selben Gedanken wie damals - vor wenigen Wochen beim ersten Betreten dieses Raumes - kreisten mir durch den Sinn... und selbiger stand mir auch heute wieder nach nichts davon. Ich war frustriert.
Schließlich beschloss ich meine Gedanken aufzuschreiben und ging daher zum Schließfach. Als ich mit meinem Laptop wieder zurück in den Raum kam, waren bereits mehrere Plätze besetzt. Es war eine für mich unangenehme Lautstärke. Alle redeten durcheinander. So fühlte es sich zumindest an. Neben dem von mir avisierten Platz hatte sich ein etwas älterer Mann niedergelassen und schaute fragend in den Raum. Doch ich konnte nicht von ihm weg rutschen, denn alle Plätze waren belegt. Es wurde mir zu eng. Zu viele Menschen. Zu viel Krawall. Ruhe wollte ich. Nach mehr stand mir mein Sinn nicht. Doch Ruhe würde sich hier nicht einstellen. Ich ging also. Nahm meinen kleinen PC und ging nach oben in die mittlere Etage. Ein wenig an den Blog-Beiträgen schreiben. Ja das erschien mir ein guter Plan zu sein. Leider war es auf der zweiten Etage aber auch nicht ruhiger. Es waren zwar weniger Menschen, aber die Lautstärke war ebenso enorm. Zumindest kam es mir so vor. Ich ergriff die Flucht. Eine Möglichkeit hatte ich ja noch. Wenn sich alle aus der Gruppe in dem Ergoraum aufhielten, dann musste der Gruppenraum unterm Dach schließlich frei sein. Frei von Menschen, frei von Geräuschen – einfach frei von allem, was gerade nicht mit mir in Einklang zu bringen war...
Mein Wunsch – meine Hoffnung erfüllte sich. Die Luft fühlte sich immer noch stickig an und somit öffnete ich das Fenster. Frische Kühle drang in den Raum und machte ihn erträglicher. Ich setzte mich wieder auf den mir, aus Ermangelung anderer Möglichkeiten, zugewiesenen Platz an der Stirnseite des Tisches und packte meinen Laptop aus. Er startet langsam. Scheinbar gemächlich. Als ob das Gerät die Stille ebenfalls genießen wollte. So saß ich da und schrieb. Schrieb mir den Morgen mit allen Zweifeln und Emotionen aus der Seele... So ging die Gruppenergo vorbei. Vorbei ohne, dass ich mit den anderen in Kontakt treten musste.
Den nächsten Punkt auf der Tagesübersicht konnte ich dank einer erneuten psychologischen Testung wieder umgehen. Trommeln. Ich und trommeln. Ich kann mir nichts darunter vorstellen und so war ich auch sichtlich erleichtert, dass ich doch wieder an die Fragen gesetzt wurde. Ich antwortet ehrlich und offen – ohne lange zu überlegen, was gut oder nicht gut angesehen sei. Immer ganz gerade heraus... Doch diese Offenheit führte zum Ende des Tages wieder zu einem ausführlichen Gespräch über einen erneuten Klinikaufenthalt. Doch diesem konnte ich – nein wollte ich nicht zustimmen. Klinik – Stationär? Nein – auf keinstem Falle wieder zurück in die Klinik. Stellte es sich doch nach einer erneuten Wiederholung dar. Und so war mein Gefühl. Gefangen in einer Schleife. So wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ immer und immer wieder an der selben Stelle auftauchend. Nur, dass sich hier das Datum und ein wenig auch die Menschen veränderten. Also im Gespräch mit dem Bezugspsychologen bestmöglich versichern, dass nichts passieren wird und dies im Anschluss auch noch einmal beim Stationsarzt. Zusammenreißen hieß die Parole – und ich habe es geschafft...
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