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Verschenkte Gelegenheit

Der gestrige Tag fraß meinen letzten kleinen Funken Optimismus, meine letzte innere Kraft. Ein immer drückenderes Gefühl überkam mich und setzte sich in allen Gliedern fest. Eine unendliche Leere vermieste mir jegliches Empfinden. Weder Hunger, Appetit noch Durst kamen auf. Selbst die größte Vernunft konnte mich nicht aus derartiger Lethargie befreien. Mein Durchschnittswert des Trinkprotokolls stürzte zusehends in die Tiefe... Von Essen ganz zu schweigen...

Die Nacht war wieder einmal nicht erholsam. Selbst die Medikation, welche auf Station scheinbar Wunder wirkte, brachte keine Erleichterung. Ich zweifelte. Zweifelte an meiner Kraft. An meiner Stärke. An meinem Willen. Dem aufrichtigen Willen etwas zu ändern. Selbst die Therapie und den Aufenthalt in der Tagesklinik stellte ich in Frage. Hatte ich doch das Gefühl, dass sich nie etwas ändern würde...

Da ich keinen Schwung in die Morgenroutine bringen konnte, kam ich trotz Auto zu spät. Die Morgenrunde war bereits vorbei. Das Telefondisplay zeigte einen Anruf aus dem Schwesternzimmer an. Ich ärgerte mich. Ärgerte mich über die Situation. Aber vor allem ärgerte ich mich über mich selbst. Der gute Start vom Vortag rückte in unerreichbare Ferne und eine Besserung schien nicht wieder ins Blickfeld zu rücken.

Schwermütig und mit schwerer Schritten betrat ich den Bewegungsraum. Die Wände kamen auf mich zu. Immer mehr Personen kamen hinzu. Es nahm mir den Atem. Konzentriert versuchte ich einen gleichmäßigen Rhythmus zu finden. Ich suchte Halt in der hinteren Ecke des Raumes. Die anderen versammelten sich auf der gegenüber liegenden Seite. Atmen. Ein. Aus. Ein und wieder aus... Eine scheinbar unüberwindbare Aufgabe. Doch ich schaffte es. Schaffte es ohne das diese Schwere den anderen auffiel.

Es stand Bewegungstherapie auf dem Tagesplan – KBT – Körperbetonte Bewegungstherapie. Gestern hatte ich die obligatorische Einladung hierzu erhalten. Die Sporttherapeutin blickte mich mit einem Strahlen an. Ich verstand die Welt nicht mehr. War dies doch vollkommen diametral zu meiner eigenen Wahrnehmung.

Die Einheit begann. Alle Teilnehmenden sollten im Kreis zusammen kommen. Jeweils mit einer Armlänge Abstand zueinander. Ich versuchte es. Doch der Versuch schlug fehl. Ich flüchtete zurück in die Ecke. Die Wände gaben mir einen gewissen Halt. Leider war dieser nicht stark genug um mich in der Einheit, in der Gruppe, gar in dem Raum zu halten. Die einladenden Worte der Therapeutin vernahm ich zwar, jedoch drangen sie nicht wirklich zu mir... Ich floh aus dem Raum. Ich floh in den Ruheraum im Dachgeschoss. Tatsächliche Ruhe fand ich jedoch nicht. War ich doch zu aufgewühlt. Aufgewühlt von vergangenen Eindrücken, welche mit der Begrifflichkeit KBT in Verbindung standen und mit erneuten schlechten Vermutungen. Vermutungen, welche mein Hirn erspann. Vermutungen, welche wahrscheinlich nie eintreffen sollten. Doch so reflektiert war ich in diesem Moment nicht. Hatte ich doch damit zu tun, mich in der Tagesklinik zu halten. Ständige Blicke auf die Uhr machten meinen Zustand nicht besser und minderten das fehlende Zeitgefühl in keinster Weise. Doch die Zeit schlich...

Auf einmal stand meine Bezugsschwester im Raum. Ich war erstarrt. Erwartet ich doch jetzt mahnende Worte. Doch sie erinnerte mich nur freundlich an unseren Termin. Welchen Termin? Da ich die Morgenrunde verpasste, war mir der Zeitpunkt unseres Gespräches nicht bekannt. Sie war verunsichert. Ich dagegen war wütend. Nicht auf sie sondern auf mich. Hatte ich doch nicht den Mut gefunden den Gruppenraum zu betreten. Hätte ich dies getan, hätte ich von dem Termin gewusst – lag doch ein kleiner Zettel zur Information auf meinem Platz...

11 Uhr sagte sie. 11 Uhr würden wir uns zu unserem Gespräch sehen. Ich war erstaunt und entsetzt zugleich. Waren für diese Gespräche doch ungefähr 50 Minuten eingeplant. 50 Minuten würde bedeuten, dass ich meinen Zahnarzttermin nicht würde wahrnehmen können. Doch dieser Termin war wichtig. Ob er wichtiger war als das Gespräch sei dahin gestellt. Aber der Zeitpunkt war von der Zahnarztpraxis eher terminiert. Hatte ich doch bereits am Montag morgen um einen baldigen Termin gebeten, da mir am Vortag ein Stück Zahn abgebrochen war. Eigentlich hatte ich die Hoffnung, dass ich bereits kurz nach dem Telefonat die Gelegenheit erhalten würde. War deshalb extra früh aufgewacht. Doch so schnell war es nicht möglich. Somit hatte ich den heutigen Termin um kurz vor 12 Uhr erhalten. Diesen Termin hatte ich ihr am Montag auch gleich bei den Schwestern bekannt geben. Sie erinnerte sich jedoch nicht mehr. Kurz flammte der Eindruck von Desinteresse ihrerseits in mir auf. Eine vollkommene Fehleinschätzung. Eine absolute Unterstellung. Schließlich war ich nicht die einzige Person, welche von ihr betreut wurde. Ich beschloss also meinen Anflug von Ungerechtigkeit sinnvollerweise aus meinem Hirn zu schieben. In meinen Gedanken lief bereits ein Notfallprogramm ab. Anrufen und neuen Termin vereinbaren. Hoffen, dass dieser nicht allzu weit in der Zukunft liegen würde. Fragend sah sie mich an. Ich bemühte mich redlich, die Problematik der scharfen Abbruchkante noch einmal darzustellen. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Sie nahm ihr kleines Notizbuch zur Hand und blätterte ein wenig hin und her. Ein neuer Zeitpunkt für unser Gespräch war schnell gefunden – 13:30 Uhr. Für den Zahnarzttermin veranlagte sie einfach pauschal 30 Minuten. Den Rückweg eingeschlossen sollte ich nach ihrem Gusto spätestens 13 Uhr wieder in der Villa zurück sein. Ich zweifelte. Erwartete ich doch Schlimmes...

Die Uhrzeiger näherten sich 11 Uhr. Ich nahm meine Tasche und machte mich auf den Weg. Sollte ich mit dem Auto fahren oder den Nahverkehr nutzen? Die Entscheidung fiel mir sichtlich schwer. Doch die Füße schlugen den Weg zum Wagen ein.

Die Behandlung dauerte länger als erwartet und beinhaltete noch ein Röntgenbild. Der zweite Teil der Wurzelbehandlung war somit voran geschritten. Den Abschluss solle sie Ende der nächsten Woche finden. Die Zahnärztin schlug vor, noch eine weitere Schadstelle zu beheben. Ich sagte zu. War ich doch einmal hier. Augen zu und durch. In einem kleinen Augenblick des Schmerzes strich mir die Helferin – ob bewusst oder unbewusst – sanft über die Wange. Ein unendlich angenehmes Gefühl, dass hoffentlich nicht zu schnell enden sollte...

Auf dem Rückweg stand ich im Stau – versuchte in der Tagesklinik anzurufen. Wollte ich doch auf keinen Fall unhöflich erscheinen und den dankenswert verschobenen Termin nicht einhalten. Jedoch ging der Ruf ins Leere. Niemand nahm ab. Sobald möglich beeilte ich mich und betrat kurz vor halb zwei den unteren Flur. Durchatmen. Ich wurde noch nicht vermisst. Huschte noch einmal kurz zur Toilette und klopfte anschließend zaghaft am Dienstzimmer.

Gemeinsam gingen wir in den Raum, der für EKG- und weitere Untersuchungen genutzt wird. Seine Sterilität spiegelte mein Körpergefühl wieder. War ich doch überhaupt nicht bereit für dieses Gespräch. Doch sagen konnte ich es nicht. Sagen durfte ich es nicht. War es doch teil des Therapieablaufes. Fest ins Konzept eingeplant. Ich platzierte mich auf dem einzigen Stuhl. Unter dem kleinen Tisch zog sie eine Hocker hervor. Dieser machte keine wirklich bequemen Eindruck. So wirklich bequem fühlte sich aber auch der Stuhl nicht an...

Das Gespräch fand nicht wirklich statt. Zwei Menschen, die sich zwar im selben Raum befanden aber keinen Draht zu einander fanden. Erschreckend nahm ich ein immer größer werdenden Abstand wahr. Nicht räumlich – saß sie doch nur eine Armlänge von mir entfernt. Eher emotional. Die Minuten vergingen nicht. Ich war hilflos. Sie scheinbar ebenso. Keine Frage drang an mich heran. Alles wie in Zeitlupe. Wie in einer Parallelwelt. Einer Wahrnehmung, die nur punktuell mit der reellen Situation übereinstimmte. Ich versuchte einen Punkt im Raum mit dem Blick zu fixieren. Traute ich mich doch nicht sie anzusehen. Tat es trotzdem ab und an und fühlte mich elend. Meine Gedanken wanderten. Suchten nach Antworten. Nach sinnvollen Antworten auf ihre Fragen. Auf gute Fragen. Auf wahrhafte Fragen. Und ich fand Antworten. Doch diese kamen mir nicht über die Lippen. Kreisten die Gedanken doch immer wieder um die gefährliche Situation von Sonntagnacht und mein aktuelles Unbehagen. Um die unendlichen Zweifel... Eine ehrliche direkte Antwort stand mir scheinbar im Weg. Vermutete ich doch, dadurch den Abbruch der Therapie herauf zu beschwören. So schwieg ich. Doch dieses Schweigen war unendlich laut. Laut und quälend. Und es half mir nicht. Ein Teil von mir driftete in eine andere Sphäre ab. In Gedanken machte ich mich auf den Weg nach Nirgendwo. Sie bemerkte dies. Forderte mich vehement auf im Hier und Jetzt zu bleiben. Und fragte erneut... Keine adäquate Reaktion meinerseits. Nach einigen Minuten drehte sie sich leicht von mir weg und lehnte ich mit dem Rücken an der Wand an. Innerlich vollkommen unruhig saß ich scheinbar wie versteinert auf dem Stuhl und hoffte auf ein Ende – auf mein Ende... oder auf eine unkonventionelle Intervention ihrerseits... Irgendetwas, was mich aus dieser Verfassung befreien könnte. Doch nichts... Natürlich nichts... Was hätte sie auch tun können...? Schreien? Schütteln? Wüten? Den Raum verlassen? Alles wäre ziemlich schräg gewesen. Hätte wohl der professionellen Arbeit widersprochen. Hätte mir aber vielleicht aus meinem eigenen Gedankenkreis helfen können...

Ich kämpfte weiterhin mit mir und meinen Befürchtungen. Sortierte innerlich jeden einzelnen Satz wieder und wieder. Ordnete Worte und gar einzelne Buchstaben. Quälte mich mit meinen eigenen Schranken. Als ich endlich soweit war und sprechen wollte. Ehrlich sprechen wollte, war die Zeit für unser Gespräch um. Mit den Worten „Eins, zwei, drei – Zeit vorbei“ stand sie auf und geleitete mich aus dem Raum... Da war sie – die paradoxe Intervention..., aber leider zu spät... Die Chance war vertan.. Vertan durch mich selbst... - ich stand mir wie so oft selbst im Weg... Unfähig für vernünftige Entscheidungen...

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