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Wechselbad der Gefühle

Die Nacht ist recht unruhig. Ich wache ständig auf. Zumindest fühlt es sich so an. Das Medikament, was mit die junge Ärztin mitgegeben hat, hilft scheinbar nicht. Zumindest ist das mein Eindruck. Ich starre stündlich auf die Uhr und wälze mich im Bett hin und her. Wäre es vielleicht doch besser gewesen in der Klinik zu bleiben...? Nur was wäre dann gewesen? Hätte ich noch genügend Recht auf Mitbestimmung? Hätte ich tatsächlich am nächsten Tage wieder gehen dürfen...? Fragen über Fragen kreisen in meinem Kopf... Der Wecker klingelt. Einer der vielen – die Weiteren werden in regelmäßigem Abstand folgen. Aber ich kann mich nicht aufraffen. Die Minuten fließen dahin. Mittlerweile ist es kurz nach halb neun und ich sitze immer noch auf der Bettkante und kann keinen klaren Gedanken fassen. Um diese Zeit müsste ich eigentlich bereits in der Tagesklinik sein. Mir kommen die Worte der Sachbearbeiterin in den Kopf... Die Drohung mit dem Sozial-psychiatrischen Dienst, dem Hausbesuch, der Polizei. Die Person im Spiegel ist mir ein wenig befremdlich. In was habe ich mich da hinein manövriert? Wäre es denn nicht auch ohne den Klinikaufenthalt gegangen? Hätten vielleicht noch ein paar Tage des Rückzuges ausgereicht um das Schauspiel weiterführen zu können? Ich weiß es nicht... Jetzt ist es so. So wie es ist. Das vollkommene Vertrauen in völlig fremde Menschen hat mich an diese Stelle gebracht... Das morgendliche Ritual läuft schleppend ab. Selbst das Ankleiden fällt heute wieder besonders schwer. Die Zeit rinnt davon. Der Stundenzeiger hat fast die Ziffer 9 durchquert. Verdammt! Es ist zu spät. Die Morgenrunde wird gleich beginnen... Ich sinke die Couch nieder und starre in den fahlen Raum. Was soll ich nur tun? Lohnt es sich eigentlich noch, mich jetzt auf den Weg zu machen? Oder haben die in der Klinik bereits das ganz große Notfallorchester alarmiert? Die Fahrt mit der Bahn würde viel zu lange dauern. Das letzte bisschen Vernunft animiert mich aufzustehen. Ich schnappe mir die Autoschlüssel. So wirklich fahrtüchtig fühle ich mich nicht. Die Tränen laufen wieder. In den letzten Wochen ging es fast gar nicht und nun hört es scheinbar nicht wieder auf... Frost liegt in der Luft. Aber der Himmel ist klar und die Sonnenstrahlen kitzeln mich in der Nase. Die Scheiben der Autos sind vereist. Ich lasse den Motor an und beginne damit die Scheiben von der weißen Schicht Wintermorgen zu befreien. Jetzt noch eine Kontrolle wegen fehlender Verkehrstüchtigkeit des Fahrzeuges wäre mein emotionaler Restschlag. Die Vermutung, dass jeder Uniformierte wissen würde wer ich sei, liegt mir unterschwellig im Magen. Mir ist schlecht. Das ist aber nichts Neues, denn dieses Gefühl begleitet mich ja bereist schon seit mehreren Wochen. Genau gesagt, seit dem Tag als mich mein Arzt mit der Tagesklinik überrumpelte. Ich fahre los. Bloß konzentriert auf den Verkehr und die Fußgänger achten. Ein Radfahrer kreuzt schnippisch meinen Weg. Ich erschrecke. Fahre langsam die Straßen entlang. Aber hoffentlich nicht zu langsam – alles nur nicht auffallen... Als ich die Einfahrt zum Klinikgelände hinauf fahre ist es bereits weit nach halb zehn. Kann ich auf einem der freien Stellplätze parken? Er ist mit einem Schild „Mitarbeiter“ markiert. Ich traue mich nicht. Habe aber auch keine Kraft um einen freien Stellplatz am Straßenrand zu suchen. Also versuche ich mein Auto so weit wie möglich an die Hecke zu lenken. Immer abwägend, ob andere Wagen noch unproblematisch daran vorbei fahren können. Das Aussteigen erscheint unmöglich. Also sitzen bleiben. Atmen – ein, aus, ein und wieder aus... Unaufhörliches Grübeln. Ich überwinde meine Skepsis und gehe in Richtung Eingangstür. Einer der beiden für Patienten reservierte Stellplatz ist noch frei. Ich zögere. Gehe dann aber zurück zu meinem Auto um es dann doch regelkonform abstellen zu können. Immer das ungute Gefühl im Nacken, dass mich jemand vom Personal ausgerechnet in diesem Moment beobachten und die falschen Schlüsse daraus ziehen könnte. Peripher nehme ich meine Bezugsschwester am Fenster des „Laborzimmers“ wahr. Sie scheint mich jedoch nicht zu bemerken. Erleichterung. Der Wagen ist umgeparkt. Die Eingangstür lässt sich gefühlt noch schwerer öffnen als die Tage zuvor. Niemand ist zu sehen. Das Haus ist ganz still. Die Tür zum Schwesternzimmer ist einen winzigen Spalt geöffnet. Ich klopfe an. Es bleibt ruhig. Doch dann: „Herein“. Mein Bezugstherapeut sitzt an dem Arbeitsplatz, von dem die Schwester am Vorabend die Ärztin versucht hat zu erreichen. Ihm gegenüber eine jungen Frau. Bisher ist sie mir noch nicht begegnet gewesen. Ihr Name ist mir unbekannt. Sie hält einen Telefonhörer in der Hand. Sie schaut mich an. Ihr Blick wirkt fragend. Auch er schaut ein wenig irritiert. Und ich? Ich stehe schluchzend im Türrahmen. „Sie können die Kavallerie zurück rufen!“ sind die einzigen Worte, die ich in diesem Moment hervor bringe. Tun die beiden nur so oder haben sie wirklich keine Ahnung von dem, was am Vorabend passiert ist. Sie schauen sich an und scheinen sich wortlos abzustimmen. Die junge Frau hat sich von ihrem Platz erhoben und fragt mich, ob ich ein Gespräch mit meinem Bezugspsychologen haben möchte. Sie sagt, er hätte auch gerade Zeit. Mit seinem Bürodrehstuhl, sich mir zwischenzeitlich zugewandt, lächelt er mich zögerlich, fast vorsichtig an. Sie fragt mich noch einmal. Die Frage klingt jedoch mehr nach einem verbindlichen Vorschlag. Da mir nichts anderes übrig bleiben zu scheint, folge ich meinem Therapeuten. Erhält mir die Tür zum Treppenhaus auf und bleibt stehen. Die Ausgangstür im Rücken. Befürchtet er das ich jetzt noch davon laufe? Hey - ich bin hier! Ich habe keine Lust auf das große Notfallorchester. Ich will keine Kavallerie. Eigentlich will ich gerade gar nichts. Außer vielleicht mein Ende. Aber diese Option steht nicht zur Debatte. Ich kann nicht ertragen, dass er hinter mir gehen will. Das Unbehagen von damals – aus der Zeit mit der Wunde am Rücken – steigt in mir auf. Nach mehreren Blicken scheint er etwas zu erahnen und geht voran. In dem großen Raum in der obersten Etage läuft bereits eine Therapieeinheit und die Menschen sitzen am Tisch versammelt. Wir stehlen uns in sein Arbeitszimmer. Ich wähle wieder den Sessel in der hinteren Ecke neben dem Drucker. Er fragt, was er tun könne. Wie er mir denn helfen könne. Er konstatiert, dass er mir meine Verzweiflung an sehen kann. Doch das Gespräch schleppt sich. Ich bin wie blockiert. Die Geschehnisse des vorherigen Nachmittags lassen mich an meiner Vertrauensfähigkeit zweifeln. Wie ehrlich kann ich hier noch sein, ohne dass die Klinikmaschinerie wieder in Fahrt kommt? Ein wenig verunsichert wirkt er. Seine Fragen dringen nicht zu mir durch. Mein Blick wandert anfänglich leer im Raum umher. Schließlich bleibt er an der Weltkarte an der Wand hängen. Nach wenigen Sekunden kann ich ihn ansehen. Den jungen Mann mit den blonden Haaren, dessen Frisur durch den Stil der 90iger-Jahre inspiriert zu sein scheint. Er hat ein bubenhaft schelmisches Gesicht. Das Foto auf seinem Tisch lässt vermuten, dass er bereits Kinder hat. Anhand seiner äußerlichen Gestalt kann ich dies jedoch nicht ganz glauben. Er wirkt eher wie ein großer Bruder. Plötzlich brechen die Tränen wieder los und auch die Worte. Ich erzähle, er hört zu. Fragt nach. Es geht um das Gestern und die daraus notwendigen Abläufe. Um die letzten Wochen und Monate. Um die Entscheidung für die Therapie in der Tagesklinik. Um viele Themen. Eigentlich geht es wild und wirr durcheinander. Er stellt Fragen und ich antworte. Ich kann mich öffnen und fühle mich angenommen. Man könnte sogar sagen, dass ich mich das erste Mal wohl in diesem Haus fühlen kann. Dieses Empfinden schwindet jedoch schnell wieder. Er will wissen, ob ich konkrete Gedanken ans Sterben habe. Ob ich mich bereits intensiver mit verschiedenen Methoden beschäftigt hätte und wie wahrscheinlich eine akute Tat denn wäre. Meine Antworten sind ehrlich. Genau so ehrlich wie gestern. Langsam habe ich den Eindruck, dass ich diese Fragen mantraartig wiederholend beantworten muss. Es stresst mich und ich bin genervt. Aber ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Doch meine Körpersprache verrät mich. Nun erklärt mir mein Psychologe, dass er den Chefarzt zu dem Gespräch hinzu ziehen muss. Eine zweite Meinung wäre hier im Hause bei diesem Thema verpflichtend. Sekundenschnell ist er an seinen Schreibtisch gewechselt und hat den Telefonhörer in der Hand. Er wählt eine Nummer. Ob ein Gespräch zustande gekommen ist, kann ich nicht nachvollziehen. Mein Blick hängt an den Zeigern der Uhr über der Tür. Wir haben bereits schon länger als eine Stunde gesprochen. Er nimmt wieder auf dem niedrigen Sessel mir gegenüber Platz. Unsere Gespräch wendet sich dem Thema verpasster Chancen zu. Chancen auf ein scheinbar sozialverträgliches Sterben. Er schaut verunsichert. Irgendwie versuche ich mich und meine diesbezüglichen Gedanken zu erklären. Ich sage ihm, dass ich keinen Unfall aktiv herbei führen werde, da mir die unschuldigen Beteiligten zu leid täten. Aber ich sage ihm auch, dass ich mich der nächsten Gelegenheit wohl nur schwer entziehen kann. Er wirkt verwirrt. Ich schildere ihm, die aus meiner Sicht verpasste Chance. Die Chance die sich Anfang Oktober fast ergeben hätte. Die Chance die mir jedoch erst jetzt wirklich bewusst geworden ist. Jetzt, vor zwei Tagen, beim Ausfüllen des Fragebogens. Ein Schlüssel gleitet in das Türschloss. Ich kann die Drehung des Schließzylinders hören. Wir schauen beide zur Tür. Der Chefarzt betritt den Raum. Sein Blick ist ernst. Er reicht mir die Hand und lässt sich auf dem Bürostuhl nieder. Er stellt sich mir mit Namen und Funktionsbeschreibung vor. Sein Name ist unaussprechlich. Aber er erinnert mich in seiner Sprachfärbung an den Nachname eine liebgewonnenen Bekannten. Ich muss innerlich lächeln. Sein Blick wird freundlicher. Wirklich unfreundlich war er bisher auch nicht. Nur eben ernst. Das mag daran liegen, dass er mir nun einen kurzen Vortrag halten will. Halten muss. Einen Vortrag darüber, dass ich mit Zustimmung zum Klinikaufenthalt einen großen Teil der Verantwortung für mein Leben und meiner Gesundheit an die Beschäftigten übertragen habe. Danach folgen Informationen über die weiteren Behandlungsmöglichkeiten. Ein stationärer Aufenthalt, aber auch eine ambulante Therapie stehen als Vorschlag im Raum. Dann deklariert er, wie denn eigentlich das Methoden der Tagesklinik gedacht seien. Meine Gedanken rotieren. Die Sache mit der Verantwortungsübertragung habe ich nun schon mehrfach gehört. Ich werde ungehalten. Ich falle ihm ins Wort. Er hält kurz inne. Ich teile ihm mit, dass sich mir der Sinn einiger Therapieeinheiten noch nicht erschließt - ich betone: Noch nicht! Herr Professor Unaussprechlich nimmt meine Aussage scheinbar als Kritik am Konzept seiner Einrichtung auf. Er wirft mir vor, dass ich die Dinge bewerten würde, bevor ich mich überhaupt darauf eingelassen hätte. Eine Entgegnung prallt ab. Eine Bewertung der Methoden liegt mir völlig fern. Ich weiß, dass viele Wege zum Ziel führen können. Und das jeder Mensch seinen eigenen Weg finden muss. Ich wollte doch nur ausdrücken, dass mir die letzten Tage bisher keine Sicherheit geben konnten. Sicherheit und Vertrauen in mich selbst, in den sogenannten Sinn des Seins, in den Sinn der Zukunft und in den Weg, der hier begonnen hat. Er konstatiert, dass die Tagesklinik nicht der richtige Ort zum Philosophieren über den Sinn des Lebens sei. Und ein kurzer Anflug von dezenter Überheblichkeit streift sein Blick. „Ok“ denke ich - Revier markiert. Das kann spannend werden. Wie er wohl den Sinn des Lebens definiert? In meiner Definition ist es gerade nur der kleinste Nenner, der meinen Überlebenswillen erhält. Daher Flucht nach vorn. Ich schlage vor uns auf die kleinste gemeinsame Schnittmenge zu einigen. Er stimmt zu. Und dann verwenden wir beide in unserem Dialog noch den ein oder anderen Terminus aus der Schematherapie. Einem Konzept, welches auf der Klinikwebseite aufgelistet ist und zu dem es etliche weiterführende Seite im Internet zu finden gibt. Mein Bezugspsychologe beobachtet die Situation. Keine Ahnung was er über diesen skurrilen Wortwechsel denkt. Aber es scheint ihn ein klein wenig zu erheitern. Professor Unaussprechlich fragt mich, ob ich mich denn nun überzeugt für den Aufenthalt in der Tagesklinik entscheiden kann. Als Kompromiss schlägt er vor, dass man die nächste Woche als eine Art Probezeit vereinbaren könne. Eine Probezeit? Nein! Ich bin da. Ich habe mich durch die letzten beiden Tage gekämpft. Mein Körper hat sich bereits entschieden. Auch mein Verstand braucht keine Entscheidungszeit mehr. Nur mein Gefühl zweifelt noch. Doch Verstand und Körper übernehmen die Verantwortung. Es fühlt sich gut an. Ich bin erleichtert. Auch ohne wirkliche Artikulation, dass ich bleiben will, merkt man mir meine Entscheidung wohl ausreichend an. Und die Anspannung schwindet. Nicht ganz. Doch ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr. Ob wir diese Entscheidung und auch eine Art Lebensvertrag noch schriftlich fixieren müssen fragt mein Therapeut den Professor Unaussprechlich, bevor dieser den Raum verlässt. Dieser schüttelt unmerklich mit dem Kopf. Wir sparen uns das Papier und ich hoffe, dass ich durch konkludentes Handeln meinen Beitrag leisten kann. Der junge Psychologe erläutert mir den Therapieplan nochmal. Eigentlich sagt er nicht viel mehr oder anderes als das, was meine Bezugsschwester am Dienstag erläuterte. Doch heute scheinen mich die Worte zu erreichen. Nach beinahe zwei Stunden verlasse ich fast euphorisch sein Arbeitszimmer. Ich bin dankbar für die Zeit der beiden, für die Zeit der Schwestern und der anderen. Ich will kämpfen und das soll nun endlich beginnen. Die anderen sitzen bereits am Tisch im Gruppenraum und genießen mehr oder weniger ihr Mittagessen. Der Geruch erscheint mir heute immer noch nicht gut. Jedoch kann ich ihn heute aushalten. Wir sitzen da und unterhalten uns über belanglose Dinge. Doch auch ernste Gesprächsthemen weben sich in die Gespräche. Am Tisch sitzen zwei neue Mitpatientinnen. In der einen erkenne ich die junge Frau mit dem Badelatschen, die am Dienstagmorgen ebenfalls vor der Aufnahmekanzel gewartet hat. Das Thema wühlt mich auf. Auch in den anderen scheint es zu arbeiten. Die bis dahin doch eher fröhliche Stimmung schlägt um. Ich muss mit den Tränen kämpfen und verlasse den Raum. So schnell kann meine Stimmung umschlagen. Dieser Zustand entsetzt mich. Beängstigt mich sogar. Ich verstaue meine Tasche in dem Schließfach und gehe vor das Haus. Es ist kühl. Angenehm kühl. Die Jacke hängt noch oben im Gruppenraum über der Stuhllehne. Einzig das Telefon habe ich dabei. Trotzdem entscheide ich mich dazu ein Stück zu gehen. An der nächsten Querstraße begegnet mir ein Mann mittleren Alters mit einem großen, grau-braunen Hund. Er ist schlank und sein Fell ist lockig. Solch einen Hund habe ich bisher noch nicht gesehen. Zumindest nicht in der Größe. Ich frage den Mann um welche Rasse es sich bei der Fellnase handelt. Er entgegnet mir, dass es ein Riesenpudel sei. Wir unterhalten uns noch kurz und gehen danach unserer Wege. Das Laufen tut mir gut. Meine Schritte werden immer leichter. Da fällt mir ein, dass ich schon seit Monaten einen Termin bei meiner Zahnärztin brauche. Die Praxis hat nur einen Nachteil. Sie befindet sich ausgerechnet in meinem Dienstgebäude. Als ich mir die Praxis ausgewählt habe, schien dies ein Vorteil zu sein. Einfach schnell in der Pause in den andere Etage huschen und fertig. Doch jetzt? Die Gefahr besteht, dass ich jemandem begegne, dem ich aktuell nicht begegnen will. Das komische Fragen aufkommen. Nur deshalb wechseln? Nein. Aber ich teile der Schwester mit, dass wir bei dem Zeitpunkt des Termins bitte etwas auf diesem Umstand achten müssen. Sie findet einen Termin. Noch in diesem Jahr. Zu einer Zeit, zu der die Kolleg*innen alle brav an ihren Schreibtischen sitzen sollten. Doch mehr können wir gerade nicht vorhersagen. Das bleibt dem Schicksal vorenthalten. Ich sage zu. Zurück in der Tagesklinik fällt mir bei dem Blick in den Wochenplan auf, dass der soeben vereinbarte Zahnarzttermin genau in die Ergotherapieeinheit am Donnerstag fällt. Mein inneres Kind springt fröhlich tanzend durch den Raum. Die Schwester hatte doch gesagt, dass man bei besonderen Ausnahme auch einmal von einer Therapieeinheit entschuldigt werden kann. Und wenn Zahnarzt keine besondere Ausnahme ist, dann weiß ich auch nicht... Meine Apathie gegen den Werkraum, in dem diese Tageseinheit stattfindet, ist meine Bezugsschwester scheinbar bereits aufgefallen. Als ich ihr am späteren Nachmittag von dem Termin bei meiner Zahnärztin erzähle, kann sie sich eine leicht sarkastischen Kommentar nicht ersparen. Doch sie grinst mich an und ich nehme das mal als Zusage. Ich gehe zurück in den Gruppenraum und alle warten gespannt auf die Gruppenbesprechung. Der junge Mann, der diese Aufgabe gerade inne hat, war vor einigen Minuten mit den anderen beiden Gruppensprecher*innen in die Teamberatung des Klinikpersonals entschwunden. Das ist die Möglichkeit gruppenübergreifende Themen in Bezug auf den Tagesablauf anzubringen. Er kommt zurück und gibt uns eine Rückmeldung zu unseren einzelnen Punkten. Und dann gibt er wichtige Informationen von Seiten des medizinischen Personals weiter... Teils Dinge die eigentlich selbstverständlich sein sollten. Doch diese Selbstverständlichkeit kann durch Krankheiten heftig eingeschränkt sein. Dann werden die therapeutischen Dienste für die nächste Woche verteilt. Blumengießen ist ein begehrter Dienst. Der neue Gruppensprecher soll am Montag vergeben werden, wenn feststeht, wer noch der Gruppe 1 angehört. Der Wechsel der Patienten in andere Gruppen ist scheinbar fließend. Die einen sind länger in der Gruppe 1, der sogenannten Einstiegsgruppe, und andere verweilen nur eine kurze Zeit hier. Mir ist gerade egal wie lange ich in dieser Gruppe eingeplant werde. Ich habe darauf wohl eh keinen Einfluss. Und ich vertraue. Ich vertraue darauf, dass mir die Erfahrung der Ärzte und Schwestern bei meinem Weg helfen werden. Nur eines weiß ich – Gruppensprecherin will ich nicht werden. Und das nicht nur nicht weil ich erst kurz da bin. Ich wollte damals in der anderen Klinik schon keine Gruppensprecherin sein. Mich für andere einsetzen kann ich. Vor einer Vielzahl von Menschen sprechen – das kann ich auch. Mich für mich einsetzen und für meine Bedürfnisse, daran hapert es meist. Und dieses Bedürfnis wurde aus meiner Sicht damals in der Klinik mit Füßen getreten. Ich musste. Obwohl ich nicht wollte. Und obwohl es anderen vielleicht besser getan hätte. Aber diese Entscheidung wurde ja nun erst einmal auf nächste Woche verschoben. Nun steht nur noch der Küchendienst für Montag aus. Die ältere, etwas korpulentere Patientin mit den grau-melierten, feinen, etwas strähnig wirkenden Haaren lehnt diesen Dienst gleich vehement ab und begründet ihre Entscheidung. Ihre Logik erscheint zumindest mir schlüssig. Doch der Gruppensprecher will sie unbedingt in diesen Dienst eintragen. Eine andere, etwas ältere Patientin erklärt sich freiwillig für diesen Dienst bereit. Aber das scheint für ihn keine Option. Sie sei noch nicht lange genug da um diese verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen. Am Morgen etwas Obst aufschneiden und am Mittag des Essen an die jeweiligen Patienten ausreichen sollte nun nicht gerade Hexenwerk sein, oder? Und eine Spülmaschine ein- und wieder ausräumen ist nun auch nicht besonders schwer. Zumindest in meinen Augen nicht. Trotzdem möchte ich keinen Küchendienst machen. Ich befürchte, dass ich mich angesichts des Geruches – oder besser gesagt wegen meiner aktuelle Empfindlichkeit auf Gerüche – übergeben muss. Da ich aber noch kürzer in der Gruppe bin als die älter Mitpatientin mit den dunklen welligen Haaren sollte hier keine Gefahr bestehen. Und trotzdem will er immer noch die andere in die Liste für den Küchendienst eintragen. Irgendwie scheint ihr Veto ihn nicht zu erreichen. Seine schnippisch-überhebliche Art stört mich. Ich muss tief einatmen. Es gibt eine Freiwillige und er macht hier so ein Theater wegen eigentlich nichts. Das nervt. Ich versuche ihn möglichst beherrscht von der freiwilligen Variante zu überzeugen, doch er herrscht mich barsch an. Wahrscheinlich ist mir mein Einwurf doch nicht so galant gelungen. Das Thema ist jedoch geklärt und die ältere Patientin steht im Plan. Jetzt bleibt nur noch der therapeutische Reinigungsdienst. Im Bewegungsraum muss gekehrt und anschließend die Yoga-Matten mit Desinfektionstüchern abgewischt werden. Alternativ stehen Aufräumarbeiten in den Werkräumen auf dem Plan. Ich melde mich ganz geschwind für die Yoga-Matten. Mit zwei weiteren Patientinnen laufe ich zügig hinunter zum Bewegungsraum. Ein Mitpatient ist bereits dabei den Boden zu fegen. Da bleibt glatt genügend Zeit die Situation nach der O-A-H-Methode einzuschätzen. O wie Orientieren: Die Matten hängen an der Wand. Der Raum ist nicht wirklich groß genug um alle Matten auf dem Boden auszubreiten und diese dann in einer vernünftigen Art und Weise zu säubern. A wie Analysieren: Wenn die Matten auf dem Boden liegen muss man sich bücken – das führt zu einer unangenehmen Körperhaltung. Und auf den Knien robben tut weh. Weiterhin ist beides für die eine Mitpatientin auf Grund körperlicher Gebrechen nicht wirklich nicht zumutbar. Also kurz über legt und unter H wie Handeln eine Entschluss gefasst. Ich mache den Vorschlag, dass wir die Matten an der Wand hängend abwischen. Eine hält die Matte straff. Die Zweite wischt und die Dritte breitet die Matten anschließend zum Trocknen im Raum aus. Gesagt - getan. Es dauert kaum 10 Minuten und wir sind fertig. Alle Yoga-Matten hängen gesäubert wieder an der Wand. Doch effektives Arbeiten ist nicht immer gut. Für den ganzen Akt sind doch sage und schreibe 75 Minuten im Tagesplan veranschlagt. 75 Minuten – mehr als eine Stunde. Ich bin entsetzt. Doch was soll es. Wir gehen wieder zurück in den Gruppenraum und warten auf die Runde zum Tagesabschluss. Mein Tag war durchwachsen, sage ich. Und ich sage auch, dass mich die unerwartete Fröhlichkeit, welche mich durch meinen Nachmittag trug, ein wenig beängstigt. Die Stationsleiterin, welche die Abschlussrunde mit uns durchführt, lächelt mich an. Sie scheint solche psychischen Reaktionen zu kennen. Das beruhigt mich ein wenig. Aus unserer Gruppe sollen heute noch zwei Neulinge zur ärztlichen Untersuchung. Insgesamt sind wir vier potentielle Kandidatinnen. Ich eingeschlossen. Da zwei terminlich überhaupt nicht mehr bleiben können melde ich mich sozusagen freiwillig. Es ist bereits fast 16 Uhr. Auch die junge, schüchterne Patientin mit den langen, dunkelbraunen Haaren bleibt und wartet auf die Untersuchung. Die Stationsschwester nimmt sich noch einen Augenblick Zeit für mich. Wir sprechen über den Vortag und darüber, dass sie so handeln musste. Und ich eröffne ihr meine Bedenken in Bezug auf meine absolute Appetitlosigkeit. Auf das Problem mit dem Geruch nach Essen. Und ich schildere ihr meine Befürchtungen. Sie kann mir diese ein wenig nehmen. Ich mag sie – ich vertraue ihr... Die Ärztin ist zwischenzeitlich eingetroffen. Sie ist diese Woche nur vertretungsweise hier im Haus. Der eigentliche Stationsarzt hat Urlaub. Es sei ihm gegönnt. Die andere Patientin ist nervös. Sie wirkt gar ein wenig ängstlich und daher lasse ich ihr den Vortritt. Schließlich ist es mir auch egal ob ich nun hier warte oder eher in meiner Wohnung ankomme. Ich habe nichts weiter vor. Und jede Minute, die ich hier mit Warten verbringen kann, sitze ich dann nicht grübelnd auf der Couch. Die junge Ärztin ruft mich in das Sprechzimmer. Ihre kinnlangen, lockig braunen Haare umspielen ihr zartes Gesicht. Sie ist freundlich. Ein wenig mädchenhaft. Wir unterhalten uns. Über die bisherige Zeit hier in der Klinik. Über die letzten Wochen und über meine Befindlichkeiten. Wir kommen aber auch auf das Thema Medikamententreue zu sprechen. Diese war in den letzten Wochen nicht wirklich meine Stärke. Gegen meine innere Unruhe verordnet sie mir ein Medikament für die Nacht. Wegen der andauernden Übelkeit muss sie sich erst noch einmal mit dem Chefarzt abstimmen. Das ist aber erst morgen zur Visite ansprechbar. Ich bin ein wenig enttäuscht. Aber auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an. Es folgt noch die körperliche Untersuchung. Reflextest und Herzgeräusche und was alles noch dazu gehört. Ich scheint alles so weit gut zu sein. Es ist nach 17 Uhr als ich das Gebäude der Tagesklinik verlasse. Ich steige in mein Auto und fahre nach zurück zu meiner Wohnung.

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