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Wortflussdiarrhö

Weshalb ich diese kleine verschlafene Studentenstadt nicht recht lieb gewinnen konnte, zeigte sich an diesem Tag wieder ganz deutlich. Die sonst so quirlig wirkende Innenstadt war verwaist. Nur hier und da war vereinzelt ein Restaurant geöffnet. Viele Cafés hingegen hatten geschlossen. Von der sonstigen Lebendigkeit konnte ich nicht viel wahrnehmen. Vielleicht lag es an der Jahreszeit und dem heutigen grauen Himmel. Aber selbst für einen mitteldeutschen Winter war es in den letzten Tagen recht mild gewesen. Hier und da begannen die Bäume und Sträucher bereits damit erste Knospen auszutreiben. Vereinzelt waren sogar schon die ersten Frühblüher zu entdecken.

Wir durchquerten die Fußgängerzone. Teils müde wirkende Passanten begegneten uns. Scheinbar auch auf der Suche nach einer Einkehr. Nach mehreren Metern erreichten wie ein Eiscafé und suchten uns einen Platz. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, denn wenige Augenblicke später waren alle Tische besetzt.

Das Eis schmeckte köstlich und mein Karamell-Macchiato war ein Gedicht. Wir scherzten und lachten. Wir genossen die vorerst letzten gemeinsamen Stunden. Eine von uns würde bereits am nächsten Tag in die Tagesklinik wechseln. Wir anderen sollen ihr nach Plan mit jeweils einer Woche Abstand dahin folgen. Es war also nur eine räumliche Trennung auf Zeit. Für den tatsächlichen Abschied in das jeweilige eigenständige Leben haben wir noch Zeit. Und die neuen Medien erleichtern ja unproblematisch die Kommunikation.

Das einzige, was mich in dem Café mit der Zeit etwas störte war die Geräuschkulisse. Alle Gäste redeten scheinbar laut durch einander. Wenn es mir nicht wirklich gut geht, dann sind Töne und Geräusche noch viel intensiver als in normalen, guten Zeiten. Eine Art hypersensible Reaktion als Symptomatik meiner Depression. Hiervon sind ebenfalls Gerüche betroffen. Nicht nur die schlechten Gerüche sondern auch wohlriechende Düfte. Ich nehme alles viel intensiver wahr. In diesem Moment hätte ich mir jedoch eine Note eines guten Parfums in der Nase gewünscht. Anstatt dessen aber kroch mir ein muffeliger Geruch in die Nase. Ich konnte nicht einordnen woher diese Wolke kam und selbst wenn, dann hätte ich es nicht ändern können. Daher war die einzige Möglichkeit erdulden. Zum Glück deuteten mir meine Begleiterinnen den Wunsch nach Zahlen. Schnell war die Rechnung beglichen und wir begaben uns nach draußen. Endlich frische Luft. Wie toll doch so ein grauer Nachmittag ohne viel Verkehr in der Innenstadt sein konnte.

Da wir bereits etwas früher auf Tour gehen konnten, hatten wir nun noch eine ganze Weile Zeit bis wir zurück auf Station sein mussten. Doch zurück wollten wir noch nicht. Also beschlossen wir noch ein Stück entlang eines kleinen Flüsschens zu spazieren. Dabei entdeckten wir eine Wand mit Graffiti. Das ein oder andere Graffito war wirklich gelungen. Nur der schlammige Weg minderte das Vergnügen. Trotzdem konnte ich den Rückweg in allen Punkten genießen.

Nach dem Abendessen, welches wir wieder in unserem jeweiligen Influenza-Schutzmaßnahmen-Isolationszimmern einnehmen mussten, trafen wir uns verbotener Weise in der Sitzecke am Ende des Ganges. Hier hatten wir uns auch schon in den letzten Tagen ganz offensichtlich heimlich getroffen. Zumindest wurden es irgendwie akzeptiert. Wir sahen mit unseren Mundschutzschnuffies allesamt etwas kurios aus. Das Buchverschlingungslesegeschwader hatte es sich bereits mit jeweils einem neuen Roman bequem gemacht. Und so lasen sie vor sich hin. Eine stille und doch heimliche Atmosphäre lag über der Situation. Auch ich hatte mir meinen kleinen PC mit in die Sitzecke genommen und war im Plan noch etwas an der ein oder anderen Textstelle zu feilen. Doch dazu kam ich nicht.

Plötzlich gesellte sich ein Patient zu unserer Runde. Seine Klinikaufnahme lag erst ein paar Tage zurück. Er wirkte drahtig. Wie ich später erfuhr, machte er auch einen um einiges jüngeren Eindruck. Er nahm Platz und begann zu reden. Fragen und Thesen lagen in der Luft. Anfänglich beantworteten wir diese auch abwechselnd. Die Höflichkeit verlangt es ja und gut erzogen sind wir schließlich. Und dann begann er zu erzählen. Über sich und seine Erkrankung und über Gott und die Welt. Doch wir wollten eigentlich nur unseren gemütlichen Abend genießen. Aber er redete ununterbrochen weiter. Nicht böswillig. Auch nicht unhöflich. Einfach nur ununterbrochen. In einem kurzen Moment der Unterbrechung seines Redeschwalles rutschte mir doch die Wortkreation „Wortflussdiarrhö“ heraus. Obwohl dies passend zu der Situation war, war mir dies doch ein wenig peinlich. Doch die beiden Bücherwürmchen grinsten mich schelmich versonnen an...

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