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Zu viel ist echt zu viel...

Seit dem die Quarantäne aufgehoben wurde stellte ich die Situation für mich wieder schwieriger dar. War ich doch gestern vom Zahnarzttermin zurück gekommen als zwischenzeitlich bereits eine neue Patientin im Zimmer eingezogen war. Eine junge Frau. Mit vielen Problemen – mit sehr differenzierten Problemen. Sie erzählt ohne Vorbehalte von ihrem Leben. Von ihren Problemen. Ich fühle mich plötzlich so klein. So unzulänglich. Meine Probleme scheinen so unbedeutsam – so unendlich unwirklich. Aber dennoch machen sie mir meine Seele dunkel.

Wir sitzen in der Flurecke, frühstücken, unterhalten uns und lachen. Ein wenig vertrödele ich die Zeit. Es ist Samstag – Wochenende und ich darf oder besser gesagt ich soll nach Hause. Doch zu erst will ich die ersten Sachen zusammen packen. Innerhalb der letzten Tage und Wochen hatte sich doch so ganz allmählich einiges angesammelt. Ich sortiere also den Schrank aus. Soll ich das Ganze mit der Straßenbahn zur Wohnung bringen oder hole ich das Auto hier her? Fragen über Fragen. Warum fallen mir solche Entscheidungen nur so unendlich schwer? Aber warum wirkt es dann trotzdem auf andere immer so einfach und entschlossen?

Im Dienstzimmer ist niemand. Sie sind bereits zur Besprechung zusammen gekommen. Ich überlege, ob ich nach hinten ans andere Flurende gehen soll um zu klopfen. Ich warte. Vielleicht kommt ja noch einmal jemand. Ich warte immer noch. Die Minuten vergehen. Trotzdem warte ich. Ich will nicht stören. Bei der Besprechung oder beim Frühstück. In meinem Gefühl ist mein Anliegen so unbedeutend, dass ich mich nicht traue zu stören. Doch warten mag ich nicht mehr. Die Station ist mir mittlerweile wieder viel zu turbulent. Trubel, den ich aktuell nicht aushalten kann.

Meine neue Zimmermitbewohnerin ist bereits seit einigen Minuten im Bad verschwunden. Laute Musik dringt durch die Türen bis in den Flur. In mir steigt die Anspannung. Die Lautstärke. Der Musikstil. Ich werde nervös und will eigentlich nur noch flüchten. Mit kleinem Gepäck schleiche ich mich Selbstbewusstsein vortäuschend von der Station und hole das Auto.

Als ich nach ungefähr einer Stunde zurück bin, sind die Pflegekräfte auch wieder im Dienstzimmer anzutreffen. Mein kurzzeitiges Verschwinden schien niemanden aufgefallen zu sein. Und wenn doch, dann war es nicht von Bedeutung. Die Lautstärke im Zimmer und auf Station hatte sich jedoch immer noch nicht geändert. So gehe ich und unterschreibe zum ersten Mal mit einem wirklichen Gefühl des Wollens das Formular für das Belastungswochenende. Mir hängt zwar ein unmutiges Grummeln in der Magengegend. Ein Unbehagen in Bezug auf das, was das Wochenende bringen wird. Jedoch fühlt es sich besser an als die Vorstellung die nächsten Stunden auf Station zu verbringen...


Im weiteren Verlauf war das Wochenende ruhig aber angespannt. Also ich war angespannt. Fand kaum Zeit mich zu erholen. Keine wirkliche körperliche Anstrengung – eher ein Gefühl... Einzig ein heißes Bad konnte für wenige Augenblicke ein wenig Abhilfe schaffen...

Zurück in der Klinik erwartete mich eine weitere Patientin als Überraschung im Zimmer. Keine Information vom Personal. Ich war enttäuscht. Wäre ich erst zum Zimmer gegangen bevor ich mich wieder angemeldet habe, dann wäre ich wohl möglich nicht so arg erstarrt gewesen. Doch ich war als erstes am Dienstzimmer – kein Wort – kein Hinweis...

So stand ich vor meinem Bett. Zum Glück war die junge Frau nicht im Zimmer. So brauchte ich mein Entsetzen nicht zu überspielen sondern konnte einmal tief durchatmen. OK – ich konnte es eh nicht ändern. Also Augen zu und durch. Doch hätte ich es vorher gewusst, ich wäre wohl nicht wieder zurück in die Klinik gekommen. Obwohl – dies wäre auch keine Lösung gewesen. Und wer weiß, was es noch für eine Schleife nach sich gezogen hätte. Aber zugegeben – ich war kurz am Überlegen ob ich einen Arzt wegen einer Entlassung auf eigene Verantwortung sprechen wollte.

Ich ging und holte mein Tablett mit dem Abendessen und setzte mich an den Tisch. Der Tisch der hinten in der Flurecke stand. Den Tisch, an dem ich mich langsam wohlfühlte. Der Tisch, der mir um vieles lieber war als dieser Gruppenraum, welcher auch als Speisesaal definiert wurde. Dunkel und eng. Vor allem ungemütlich. Einzig zur Visite mochte ich ihn aushalten. Sonst mied ich dieses Zimmer – und die Menschen, welche sich regelmäßig darin aufhielten.

Das Abendessen war vorüber. Alle Tabletts waren zurück in den Speisewaagen geräumt. So langsam bildeten sich die abendlichen Grüppchen. Rauchen, Tischtennis spielen, lesen oder nur gemütlich sitzen und reden. Doch meine Gemütlichkeit konnte sich nicht einstellen. Es waren einfach zu viele Menschen anwesend. Es war mir zu laut und ich hatte das Gefühl, dass die Station immer kleiner wurde.

Ein wenig hatte ich den Eindruck, dass den Anwesenden das gewisse Gefühl für den notwendigen Abstand fehlen würde. Abstand tatsächlich in Bezug auf körperliche Nähe. Aber was für mich noch schlimmer war, es fehlte in meinen Augen an Anstand. Anstand darüber, dass man anderen seine krude Musik nicht aufdrängt. Vor allem dann nicht, wenn man selbst keinen wirklichen Fokus darauf legen mag. Eine Wahrnehmung, die scheinbar nicht jedem gegeben zu sein schien. Gegenseitige Rücksichtnahme als Fremdwort. Am Vortag erst die extrem laute Musik aus dem Badezimmer und nun der Krawall aus dem Handy. Im Zusammenleben mit Menschen muss man Kompromisse eingehen. In dem Moment aber hatte ich das Gefühl, dass Kompromisse eingehen eine Art Einbahnstraße darstellte... Die Unterhaltung wurde für mich unerträglich. Konzentration auf das Gespräch war mir fast nicht mehr möglich. Eigentlich wollte ich nur weg. Leider gab es keine Fluchtmöglichkeit. Überhaupt keine. Wäre ich ins Zimmer gegangen hätte sich an der Lautstärke der Situation nichts geändert. Waren doch die Wände und Türen viel zu hellhörig. Und Lärmpegel hätte sich voraussichtlich noch erhöht. Das Getöse und der Radau hätte kein Ende genommen. Immer mehr laute Menschen hätte sich direkt vor meiner Zimmertür versammelt. Daher erstarrte ich. Aushalten. Einfach nur aushalten. Und hoffen, dass sich die Umstände dadurch ändern würden. Nach einer gefühlten Ewigkeit erfüllte sich mein Wunsch. Der unbewusste Plan der Vertreibung durch reine Anwesenheit ging auf... Nur leider ließ die Übelkeit nicht nach. Sie verstärkte sich über die Zeit sogar nur noch mehr...

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